„Bei 1860 herrscht Schwarm-Inkompetenz“

von Redaktion

Alfred Böswald, ehemaliger Mentalcoach des TSV, über das ewige Scheitern der Löwen

Nervenflattern bei 1860: Torhüter René Vollath, Max Reinthaler und Kapitän Jesper Verlaat. © Sampics / Stefan Matzke

München – Für 1860-Fans sind es mal wieder schwere Zeiten. Dauerzoff in der Chefetage, Pleite im Totopokal-Derby und ein Torwart, der nervlich am Ende ist. Wieso kriegt dieser Verein nichts auf die Reihe? Mit Sportpsychologe und Buchautor Alfred Böswald (62, Weilheim), der mal Mentalcoach bei 1860 war, sprachen wir über das ewige Scheitern der Löwen.

Herr Böswald, Aubstadt und Illertissen, letztes Jahr Pipinsried, jetzt Unterhaching. Warum blamieren sich die Löwen Jahr für Jahr im Totopokal?

In allen genannten Fällen war es für den Gegner ein Spiel, das man nur mit dem Herzen gewinnt: mit Leidenschaft, Kampf und der vollen Überzeugung, die scheinbar übermächtigen Löwen schlagen zu können. Bei Haching lebt man dies. Ich kenne Manni Schwabl gut. Eigentlich müsste es SpVgg Schwabl heißen. Er gibt immer sein Herz für das, was er tut, strahlt das aus, authentisch! Und genau dieses Herz zeigte sein Team auf dem Platz. 1860 aber hat diese Mentalität verlernt: Kopf verliert immer gegen Herz!

Obwohl die Löwen ja drei Eckpfeiler aus Hachings Aufstiegsteam geholt haben: Vollath, Schifferl und Hobsch.

1860 wurde seiner echten Löwen durch Fehlentscheidungen der Sportlichen Führung beraubt: Niki Lang weg, Fabian Greilinger weg, Marco Hiller gedemütigt. Dafür individuelle Klasse ohne Löwenherz. Was fanden die drei Ex-Hachinger also bei uns auf dem Rasen und der Bank vor? Null Authentizität, null Identifikation, null Herz! Stattdessen lauwarmes Verstecken hinter Alibis. Das Gegenteil von Haching. Ergo passten sich die drei der Schwarm-Inkompetenz der Mittelmäßigkeit an. Eine andere Erklärung gibt es nicht.

Harte Worte.

Jeder Sechstligist mit Feuer hätte 1860 am Samstag besiegt. Jeder Zweikampf von Haching, jede Aktion des Trainers – alles war 100 % Adrenalin, pure Leidenschaft! Und bei 1860? Fühlt man sich nach zwei 3:0-Siegen wie ein Champion. Diese grandiose Selbstüberschätzung führt dann eben zu solch hochnotpeinlichen Auftritten im Toto-Pokal, aber auch in der Liga.

Dabei haben die Hauptdarsteller komplett gewechselt: Trainer neu, Sportchef neu, Kader neu. Liegt das Scheitern in der DNA des Vereins?

Im Gegenteil! 1860 kam früher immer über den Kampf. Das schuf den Ruf der Löwen. Ich werde heute noch von internationalen Klienten auf „Eighteen Sixty“ angesprochen. Aber das war einmal. Heute zieht sich das eben beschriebene Selbstüberschätzungs-Syndrom durch alle Führungsebenen dieses Vereins. Den Jugend- und Amateurbereich klammere ich ausdrücklich aus – da wird richtig gute Arbeit geleistet. Auch im Breitensport. Nein, ich beziehe mich nur auf den Profibereich. Dort hält sich jeder für hochkompetent, dabei ist das Gegenteil der Fall. Es gibt ein tolles Wort dafür, das der Philosoph Odo Marquard kreiert hat: Inkompetenz-Kompensationskompetenz.

Klingt kompliziert.

Marquard meint damit: Die Fähigkeit, die eigene Unfähigkeit zu vertuschen und mit Pseudokompetenz zu kaschieren. Die Amerikaner sagen dazu: Fake it till you make it. Auf gut Deutsch: Täusche etwas vor, und wenn sich Erfolg einstellt, kannst du behaupten, es lag an dir. Das Dumme ist nur: Am Ende setzt sich immer die Inkompetenz durch. Genau das passiert bei uns permanent. Wenn ich allein auf unsere Drittligatrainer blicke: Im Erfolg großspurig, im Misserfolg beleidigt. Selbstbespiegelung statt Selbstkritik. Eine große Ausnahme war Daniel Bierofka in der Regionalliga: Totale Ausweglosigkeit, aber totale Leidenschaft und Identifikation. Ergebnis: Mit seinem Leitlöwen Sascha Mölders schaffte er den eigentlich unmöglichen Aufstieg gegen Saarbrücken. Die sieben Jahre danach waren und sind eine Bankrotterklärung auf allen Ebenen, vom Darlehensgeber über die Vereinsfunktionäre bis zu den sportlich Verantwortlichen. Der Profifußball ist krank bei 1860 – er leidet an eben jener Inkompetenz-Kompensationskompetenz. Schein statt Sein!

In so einem Umfeld kann vermutlich kein Erfolg gedeihen. Lassen sich so auch die krassen Fehlgriffe von René Vollath erklären?

Es war schon mal ein Riesenfehler des Trainers, Vollath spielen zu lassen, der zwei Spieltage zuvor gegen Fanliebling Marco Hiller ausgetauscht worden war. Und dann ausgerechnet gegen Haching! Dass Vollath dann versagt, hängt mit Übermotivation zusammen, die immer in Fehler mündet. Der Trainer muss so etwas wissen. Er hat Vollath einen Bärendienst erwiesen.

Woran klammert sich der 1860-Fan Alfred Böswald, dass sich diese Saison doch noch zum Guten wendet?

An die Liebe zu meinem Verein. Daher hoffe ich auf baldige Personalrochaden. Damit wir wieder echte Löwen werden. Mit Herz! Münchens große Liebe!

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