Das Wissen weitergegeben: Edwin Moses mit dem aktuellen Weltrekordler Karsten Warholm aus Norwegen. © IMAGO
Eines der knappsten Rennen: Moses (r.) bei der WM 1987 in Rom vor Andre Phillips (l.) und Harald Schmid. © Imago
Film-Premiere: Moses mit den deutschen Leichtathletik-Legenden Manfred Germar und Ulrike Meyfarth. © IMAGO
Der größte und rätselhafteste Hürdenläufer der Geschichte: Edwin Moses – hier bei den Olympischen Spielen in Los Angeles. © Imago
New York/München – Edwin Moses (69) war einer der größten Stars in der Geschichte des Sports. Olympiasieger über die Horrorstrecke 400 Meter Hürden 1976 und 1984. Vor allem: Kein Leichtathlet blieb so lange ungeschlagen wie er: fast zehn Jahre. Am 5. Dezember kommt die Dokumentation „13 Steps – Die unglaubliche Karriere des Edwin Moses“ in die Kinos.
Ihr 70. Geburtstag ist noch ein Jahr weg, zum Jubiläum Ihres ersten Olympiasiegs von 1976 ist es auch noch eine Weile hin – warum erscheint jetzt der Film „13 Steps“ über Ihr Leben?
Den Plan habe ich seit 1997, weil mein Leben viele filmartige Szenen hatte. 2007 habe ich daran gedacht, ein Buch zu schreiben, da kam mir wieder ein Film in den Sinn. Vor dreieinhalb, vier Jahren bin ich dann in Kontakt gekommen mit dem Produzenten Leopold Hoesch. Das war das perfekte Timing und der richtige Mensch, dem ich meine Geschichte anvertrauen konnte.
„13 Steps“ zeigt, wie wissenschaftlich Sie Ihren Sport angegangen sind.
Die Journalisten haben sich auf meine Siegesserie konzentriert, aber kaum jemand ahnte, was dahinter stand. Die wenigsten Leute wussten, dass ich Ingenieur war. Darüberhinaus habe ich die Abschaffung des Amateurstatus vorangetrieben und war im Anti-Doping-Kampf engagiert. Zum Glück hatte ich Aufnahmen aus meinem Familienleben, so hat sich ein Narrativ zusammenstellen lassen, das mein ganzes Leben reflektiert. Auch Menschen, die mich gut kennen, sind von fünf, sechs Sachen aus dem Film überrascht.
Sie haben zum Beispiel errechnet, dass man die Hürden in der Kurve mit dem linken Bein überlaufen muss, weil man so 1,5 bis 1,8 Meter Gesamtlaufstrecke einspart, was zu Ihrem legendären 13-Schritte-Rhythmus führte. Oder Sie haben Biomechanik und Telemetrie eingesetzt, waren der erste Athlet mit einem Herzfrequenzmesser – wussten Ihre Konkurrenten darüber Bescheid?
Ich habe es ihnen nicht verraten. Man sprach nur über meine Hürdentechnik, die ich selbst entwickelt habe. Niemand hat sie mir beigebracht. Wie ich trainierte, das war für die anderen mystisch. Erst in den vergangenen paar Jahren habe ich begonnen, darüber zu erzählen.
1976 gewannen Sie als Nobody die US Trials und wurden in Montreal Olympiasieger. Doch danach sind Sie in Ihrem Beruf geblieben, als Ingenieur beim Rüstungsbetrieb General Dynamics. Sie hatten mit F16-Kampfjets zu tun, mit ballistischen U-Booten, die Raketen abfeuern können. Im Film sagen Sie: „Im Prinzip war ich Raketenwissenschaftler.“
Bis 1980. Ich musste den Job aufgeben. Als Leichtathlet trat ich auch in Osteuropa an, in Polen und Ungarn, da gab es Spione. Man entzog mit meine militärische Sicherheitsfreigabe, ich sollte keinen Zugang mehr zu Erkenntnissen über die Entwicklung von Cruise Missiles haben. Ab 1980 war ich also nur noch Leichtathlet, habe aber ab und zu den Satz fallen lassen: „Sport ist keine Raketenwissenschaft, aber wenn ihr einen Raketenwissenschaftler braucht – ich bin hier.“
In Deutschland wurden Sie auch als der große, bis auf das Berliner Istaf-Rennen von 1977 unbezwingbare Gegenspieler von Harald Schmid wahrgenommen. Im Film erwähnen Sie ihn nur einmal. Hat er Sie gar nicht so sehr angetrieben, wie wir denken?
Doch! Er war nach John Akii-Bua 1972 in München und mir 1976 in Montreal der Dritte, der unter 48 Sekunden lief. Er war der Zweitbeste in der Welt, bis 1984 Danny Harris kam. Acht Jahre war er der große Antrieb für mich, wenn ich zum Training rausging. Wenn es bei mir in Kalifornien acht Uhr am Morgen war, war es bei ihm fünf Uhr nachmittags, er hatte sein Workout dann schon geleistet. Ich wusste, dass ich in Topzustand sein muss, um ihn zu schlagen, weil er sich verbesserte. Er, Danny Harris und Andre Phillips waren ernsthafte Konkurrenten.
Ihre Siegesserie ist in der Geschichte der Leichtathletik ohne Beispiele. Neun Jahre, neun Monate und neun Tage hielt sie an, erstreckte sich über 122 Rennen. Vor allem: Sie liefen nur die 400 Meter Hürden und konnten nicht auf eine andere Strecke ausweichen wie die Sprinter, die die 100 und 200 Meter haben, oder die Mittelstreckler, die sich dank des breiten Angebots von 800, 1500 Meter und der Meile aus dem Weg gehen konnten.
Und es gab Wochen, in denen musste ich am Dienstag gegen Harald laufen, am Freitag gegen Danny, am Sonntag gegen Andre. Im Mai, Juni habe ich meinen Rennplan immer öffentlich gemacht, die Konkurrenz konnte sich danach richten. Das war eine Art strategisches Spiel. Meine Aufgabe bestand darin, immer bereit zu sein für Zeiten zwischen 47,2 und 47,6 Sekunden. Ich habe 15 bis 20 Rennen bestritten, heute beschränken sich die Topleute auf acht pro Jahr. Die 400 Meter flach waren für mich übrigens keine Option. Da ist die Biomechanik komplett unterschiedlich. Ich hätte ganz anders laufen müssen und war smart genug, um zu wissen, dass da für mich nur die Verletzungsgefahr steigt.
Die 80er-Jahre – waren das die goldenen Zeiten der Leichtathletik?
Ja, wir haben mehr Werbegelder eingespielt als die damals nicht so gut organisierte Formel 1, mehr als Wimbledon und US Open. Im Fußball haben die Engländer sich für die englische, die Deutschen für die deutsche Liga interessiert, die großen UEFA-Wettbewerbe gab es nicht. Leichtathletik war der Sport Nummer eins. Wo ich lief, war jedes Stadion voll. Heute wenn man die Diamond League ansieht: 50, 60 Prozent der Plätze bleiben leer.
Ihre erste Frau war Berlinerin, Ihr Sohn Julian lebt dort – war Deutschland Ihr Basecamp in Europa?
Ab 1980. Nach der US-Meisterschaft im Juni bin ich immer den ganzen Sommer in Europa geblieben. In der High School habe ich zwei Jahre Französisch belegt, weil ich 1971 mit 15 zum ersten Mal in Paris war, am College dann zwei Jahre lang Deutsch genommen, weil ich in Deutschland laufen wollte. Leider habe ich das meiste vergessen.
Wussten Sie, dass es in München einen Club mit Namen Ed Moses gab?
Ich war dort. Zwischen 2000 und 2007 war ich oft in München, um für die Laureus-Stiftung Geld zu sammeln. Man erzählte mir von dieser Disco. Sie waren dort geschockt, als ich kam. Aber es gibt auch einen kalifornischen Künstler und einen spanischen Sänger, die sich Ed Moses nennen.
Haben Sie schon mal von Guido Müller gehört?
Ich bin mir nicht sicher.
Ein Münchner. 400-Meter-Hürdenläufer, aber vor Ihrer Zeit. Nachdem er es 1964 knapp nicht in die gesamtdeutsche Olympia-Mannschaft geschafft hatte, hörte er auf – und stieg viele Jahre später wieder ein. Jetzt ist er weit über 80, läuft nicht mehr, aber er hält über 400 und 300 Meter Hürden die Weltrekorde diverser Altersklassen. Und er begann um sie zu fürchten, als Sie ein Comeback anstrebten.
Das war 2004, ich war 49 und spürte, ich könnte noch immer unter 50 Sekunden laufen. Aber meine Knie haben mich umgebracht, es waren Schmerzen, wie ich sie zuvor nie erlebt hatte. Ich habe das Comeback abgebrochen, sonst hätte ich heute zwei künstliche Kniegelenke. Ich bin in meinem Leben im Training 27000 Meilen gerannt und letztlich ohne Langzeitfolgeschäden geblieben.
Sie arbeiten seit 2017 mit Karsten Warholm, dem jetzigen 400-Meter-Hürden-Weltrekordler aus Norwegen, zusammen. Wie kam es dazu?
Man lud mich zu den Bislett Games nach Oslo ein, ehrte mich, fuhr mich in einem Auto um die Bahn. Der Promoter sagte zu mir, sie hätten da einen jungen Läufer, Karsten Warholm, er und sein Trainer würden mich gerne kennenlernen. Ich hatte von Karsten noch nicht gehört, seine Bestzeit waren 48,9 Sekunden. Wir sprachen über zwei Stunden über die Philosophie des Laufens. Ich mochte den Typen: Er war ein Fan von mir, er trat respektvoll auf, bat mich, ihn das zu lehren, was ich getan hatte. Er ist der Erste, dem ich meine Geheimnisse verraten habe, als wäre er mein Sohn. 2021 lief er Weltrekord.
Wie ist es um die Attraktivität der Leichtathletik heute bestellt?
Die Saison zieht sich lange hin, von April bis Oktober, doch die Besten treffen zu selten aufeinander. Der Kalender ist voll: 2021 Olympia, 2022 WM, 2023 WM, 2024 Olympia, 2025 WM, ich will nicht, dass jeder immer mehr Rennen bestreitet. Aber Warholm gegen Alison dos Santos und Rai Benjamin – das möchte ich fünfmal im Jahr sehen. Die Leute zählen am Ende deiner Karriere nicht, wie viele Meisterschaften du gewonnen hast, sondern sie interessieren sich für die großen Rennen. Weil ich in Deutschland oft gegen Harald zu sehen war und man sich immer noch davon erzählt, bin ich hier bis heute beliebt.
20 Jahre Ihres Lebens widmeten Sie dem Anti-Doping-Kampf. Hat es sich gelohnt?
Als ich lief, wurde auf Wachstumshormone und EPO nicht getestet, die Tests auf Testosteron waren unzuverlässig – es gab kaum ein Risiko, erwischt zu werden. Mir war zu meiner Zeit bewusst, dass da auch Athleten auf der Bahn waren, die nicht sauber waren; man war da völlig hilflos. Mittlerweile sind die Analysemethoden sehr viel besser. Früher musste man in ein Schwimmbecken von olympischen Maßen eine Gallone mit Drogen kippen, damit das Testresultat positiv war. Jetzt würde man einen Tropfen finden. Es wird in den Kontrolllaboren nicht mehr wie bei Frankenstein von Hand gearbeitet, sondern fast alles vom Computer erledigt. Auch dass Trainingskontrollen erweitert worden sind und Sportlern klar sein muss, dass selbst nach zehn Jahren durch verbesserte Testmethoden eine verbotene Substanz entdeckt werden kann, trägt dazu bei: Der Sport ist sauberer geworden.
INTERVIEW: GÜNTER KLEIN