Der Ideengeber: Manager-Guru Daryl Morey. © IMAGO
Der volksnahe Schöngeist: Kürzlich kam Wembanyama zum Schach in den Central Park.
Der Erbe: Frankreichs Riese Victor Wembanyama ist auf dem besten Weg, Curry zu übertreffen. © IMAGO
Der Experte: Steph Curry (am Ball) galt immer als der Wunderwerfer der NBA. © IMAGO
München – Auch ein Alien sehnt sich manchmal nach den profanen Dingen des Alltags. Kürzlich in New York verabredete sich Victor Wembanyama zum Schachspielen mit Fremden mitten im Washington Square Park. Das waren köstliche Bilder, wie der 2,25 Meter große Franzose im strömenden Regen die Figuren hin und her schob. Der Mann ist in jeder Hinsicht außerirdisch, ein Basketball-Genie wie es die Welt noch nicht gesehen hat mit Faible für Malerei, Mode und Kunst, intellektuell angehaucht und gerade 20 Jahre alt. Vor Weihnachten schon hat Wembanyama mal wieder eine Schallmauer in der NBA durchbrochen. Er traf den 200. Dreier seiner Karriere im 94. Spiel Spiel – damit war er gar schneller als Steph Curry, der Wunderwerfer aus San Francisco. Während die Basketball-Avantgarde ihre Lobeshymnen anstimmte, sehen die Puristen schön langsam Armageddon aufziehen, wenn jetzt auch noch die Riesen das Werfen perfektionieren.
Egal wie man es dreht und wendet, die beste Basketball-Liga der Welt hat die Dreiersucht befallen. Dafür braucht es nicht viele Zahlen. Im Jahr 2000 – die Historiker nennen diese Zeit „das dunkle Zeitalter des Körbewerfens“ – feuerte nur eines der 30 Teams im Schnitt mehr als 20 Mal aus der Distanz. Ein Vierteljahrhundert später versucht jede Mannschaft mindestens 30 Dreier pro Partie, die Boston Celtics gar 50. Die sind amtierender Meister und beides hängt zusammen.
Kirk Goldsberry ist so etwas wie der Zahlenguru der NBA. Früher arbeitete er für die San Antonio Spurs (Wembanyamas Club), mittlerweile verdient er sich als Autor sein Geld. In seinen Werken „Sprawlball“ und „Hoop Atlas“ erklärt er, warum die NBA so aussieht, wie sie aussieht. Dazu braucht es einen kleinen historischen Exkurs. Basketball bevorzugte einst ausschließlich die großen Männer. Nach und nach begann man, ihr Handeln mit Handicaps zu reglementieren und die kleinen, flinken Aufbauspieler zu bevorzugen, wenn sie schon nicht mit Körpergröße gesegnet sind. Das Spiel des Basketballs entwickelte sich über Jahrzehnte hin weg vom Korb. Und dann kam Daryl Morey Anfang der 2000er.
Bevor der nämlich eine Karriere als Manager startete, gehörte er zu den schlausten Köpfen des MIT, der Elite-Universität in Massachusetts, bekannt für den Wirtschaftszweig. Statistiker Morey entdeckte die ultimative Formel für Erfolg im Basketball, das große Defizit des Sports. Drei Punkte sind mehr als zwei. Nur keiner wollte Dreier werfen, weil die als unsexy galten, als Spielerei. „Es hat Basketball wie ein Mathe-Problem gelöst“, sagt Kirk Goldsberry. Die Houston Rockets stellten ihn als Kaderplaner an und Morey nutzte den Job für ein Experiment am lebenden Objekt. Er formierte eine Armada an Dreierschützen, reichte ihr ein Basketball-Genie in James Harden als Kapitän und Vorarbeiter. Fertig war die Revolution. „Moreyball“ sagen sie heute dazu in Anlehnung an die ähnliche Entwicklung im Basketball, niedergeschrieben und verfilmt im Werk „Moneyball“. Daten und Fakten ersetzen subjektive Eindrücke. Zahlen statt Emotionen.
„Moneyball hat Baseball deformiert. Dasselbe passiert gerade im Basketball“, sagt Kirk Goldsberry. Die ganze Liga beteiligt sich mittlerweile am Goldrausch der Effizienz. Das wirft gewiss auch erfreuliche Erzeugnisse ab. Die Großen holen sich die Herrschaft über die Liga zurück, weil sie jetzt auch noch aus der Ferne punkten können. „Die Rache der Riesen“ nennt es Kirk Goldsberry. Superstars wie Wembanyama oder der Serbe Nikola Jokic, aktuell der Beste der Welt, gehören parallel zu den gefährlichsten Schützen der NBA, dominieren das Geschehen. Trotzdem ist Basketball gleichförmig geworden. In der Regel gewinnt das Team, das mehr Dreier trifft. Das Produkt verliert an Farbe. „Das Spiel ist nicht mehr genießbar für uns. Es ist Zeit für die Regulatoren“, findet Kirk Goldsberry.
Ideen gibt es zuhauf, die Dreierlinie könnte nach hinten wandern, die Anzahl der Dreier-Würfe begrenzt werden. Man ist ja kreativ in Amerika. Im Baseball sind sie den Weg zurück bereits vor Jahren angetreten und siehe da, die World Series in diesem Jahr elektrisierte das Land. In der NBA dürfte das länger dauern. Denn die Liga leidet, hat viele Krankheiten zu bekämpfen. Einschaltquoten fallen, das Nachwuchssystem ist alt und morsch, die großen Stars kommen nur noch aus dem Ausland, das Drama außerhalb der Arena interessiert mehr als das Produkt auf dem Feld. Und dann diese Dreiersucht. Kirk Goldsberry sagt: „Das passiert, wenn eine Liga zwei Jahrzehnte obsessiv nach jedem noch so kleinen Vorteil jagt.“
ANDREAS MAYR