„Wir haben ins Schwarze getroffen“

von Redaktion

Turnerin Janine Berger über Missbrauch und scheinheilige Verantwortliche

Tabea Alt erhob ihre Stimme. © Imago

Bundestrainer Gerben Wiersma, rechts Ex-Bundestrainer Valeri Belenki. © IMAGO/Hansjürgen Britsch

Schmerzhafte Erfahrung: Janine Berger ging an die Grenze, und musste Erniedrigung erfahren. © Imago

„Man kommt jung in das System“: Berger (mitte) als Jugendliche mit Eli Seitz und Ex-Bundestrainerin Ulla Koch. © Imago

„Wir bringen die Wahrheit ans Licht“: Janine Berger will nicht länger schweigen über die Missstände beim Turnen. © Imago

München – Die Welle an Missbrauchsvorwürfen, die das deutsche Frauenturnen seit Anfang des Jahres erschüttert, ist enorm. Was die ehemalige WM-Dritte Tabea Alt losgetreten hat, ist längst ein Skandal – in dem allen voran Janine Berger ihre Stimme erhebt. Die 28-Jährige – 2012 bei den Olympischen Spielen in London nur wegen eines Kampfrichterfehlers als Vierte an einer Medaille vorbeigeschrammt und später mehrfach schwer verletzt – nimmt sich auch für unser Interview viel Zeit. Ein Gespräch über schockierende Zustände, Kinderseelen und die in Bergers Augen einzig richtige Konsequenz: personelle Konsequenzen.

Frau Berger, das deutsche Frauenturnen wird seit Wochen von einem Missbrauchsskandal erschüttert, in dem auch Sie Ihre Stimme laut erheben. Haben Sie in der Retrospektive auf Ihre Karriere immer mehr gemerkt, dass das System krankt – und nicht Sie?

Genauso fühlt es sich an. Je mehr man die Perspektive von außen einnehmen kann, je älter und reflektierter man wird, je länger auch meine Therapie ging, desto mehr habe ich festgestellt, dass nicht wir Athletinnen das Problem sind, sondern das System und vor allem die Verantwortlichen.

Hilft die Erkenntnis beim persönlichen „Heilungsprozess“?

Auf jeden Fall. Wobei ich schon Einiges verarbeitet habe und merke, wie ich langsam wieder die „alte Janine“ werde. Die, die ihre Meinung hat, die standhaft ist, die sich nicht klein machen lässt. Dieser Teil von mir war Jahre weg. Ich gehe sogar noch weiter und sage: Ich habe noch nichts Richtigeres in meinem Leben gemacht, als die Missstände, unter denen deutsche Spitzenathletinnen turnen, öffentlich zu machen, damit sich endlich etwas ändert.

Es muss ein großer Rucksack gewesen sein.

…den wir jahrelang mit uns rumgetragen haben. Wenn man dann sieht, dass sich im System und vor allem bei den Menschen nichts verändert hat, macht mich das traurig und wütend zugleich. Ich kann nicht mehr meinen Mund halten! Denn die Verantwortlichen sind an Unfähigkeit und Scheinheiligkeit nicht mehr zu überbieten.

Haben Sie die Erkenntnisse der letzten Wochen in dieser Meinung bestärkt?

Und wie! Allein die erste Reaktion des Verbandes. Erst sagt man, wir Athletinnen hätten gänzlich andere Wahrnehmungen, und dann, wenn die Luft noch dünner wird, ist man über die einzelnen Vorwürfe und Vorkommnisse schockiert. Das ist ein bodenloser Witz! Es gehen immer mehr Nachrichten und Beweise von Turnerinnen aus den letzten Jahrzehnten bei mir ein, die mir eiskalte Schauer am Rücken bescheren. Diese Details liegen beim Verband seit Jahrzehnten.

Wird die Luft für den DTB noch dünner?

Sie ist schon sehr dünn. Aber wir müssen jetzt zusammenhalten, standhaft bleiben und uns nicht einschüchtern lassen. Wir müssen weiter machen und nicht nachgeben. Denn wir haben voll ins Schwarze getroffen. Wir sind keine Nestbeschmutzer, wir bringen die Wahrheit ans Licht. Das jetzt wieder umzudrehen, ist der nächste Manipulationsversuch seitens der Verantwortlichen. Wenn ich wirklich Verantwortung tragen möchte, müsste ich als Verantwortlicher jetzt zurücktreten.

Sie fordern personelle Konsequenzen.

In der Wirtschaft wären die Verantwortlichen längst freigestellt. Und nimmt man die Sache ernst – und das ist sie! –, muss es das auch im Turnen jetzt geben. Denn die Verbände haben auch komplett versagt, die Verantwortlichen decken sich gegenseitig. Sie waren aktiv am Missbrauch beteiligt und haben jahrelang weggesehen.

Tabea Alt hat die Welle, die nun das deutsche Turnen überrollt, losgetreten. War es eine Frage der Zeit, bis sich eine Turnerin traut – oder ist ihr Mut einzigartig?

Es war eine Frage der Zeit, dennoch habe ich Hochachtung vor Tabea und vor jeder anderen Turnerin, die sich geäußert hat. Ich kriege täglich Anrufe, Beweise, Dokumente. All diese Briefe sind nachweislich in den letzten zehn Jahren beim DTB eingegangen. Je mehr man in dieser Brühe wühlt, desto mehr Dreck kommt nach oben. Dass es so weit kommen muss, ist schade. Aber der Verband braucht wohl den Druck der Öffentlichkeit, die dünne Luft, um überhaupt minimal etwas einzusehen.

Kim Bui hat in ihrem Buch von Essstörungen geschrieben, auch Sie sagten nun, Ihr Alltag habe aus „Essen, trainieren, kotzen“ bestanden. Weiß man zu aktiven Zeiten um die Probleme der anderen?

Nein. Es ist ein offenes Geheimnis, und – das ist ja das Schlimme – du wirst von klein auf so erzogen, dass es sich für dich „normal“ anfühlt. Turnen ist besonders betroffen, weil man so jung in das System kommt. Man wird früh und leicht geformt, man kann früh vom System geschluckt werden. Aber das darf es in Zukunft nicht mehr geben. Ich habe in den letzten Jahren Dokumente gefunden, deren Inhalt man wirklich nicht fassen kann.

Erzählen Sie!

Beispielsweise mussten wir als Minderjährige während eines Nationalmannschaftslehrgangs ein Dokument über hohe Geldstrafen unterschreiben, einfach vorgelegt während eines Trainings seitens der Bundestrainerin Ulla Koch. Nicht zu unterschreiben, war keine Möglichkeit. Sonst wären wir für weitere Trainingslager und Wettkämpfe nicht zugelassen worden. Das Dokument liegt mir bis heute noch vor.

Wofür wurden Strafen aufgerufen?

Unter anderem für das Tragen einer Hose am Schwebebalken. Ist das nicht irrsinnig? Diese Geldstrafen mussten wir übrigens auch während des Trainingslagers begleichen. Uns ist das normal vorgekommen – und unsere Eltern wussten nichts davon.

Haben Sie noch ein Ereignis im Kopf, das besonders prägend war?

Ich kann mich an viele Momente erinnern, als ob sie gestern gewesen wären. Zum Beispiel, als ich 300 Gramm zu viel auf der Waage hatte und sagte: „Ich habe gerade recht viel getrunken.“ Zurück kam die Aussage: „Dann trink halt einfach nichts mehr!“ Trainings- und ernährungswissenschaftlich eine Farce!

Was entgegnen Sie, wenn der Grat zwischen hartem Training und Machtmissbrauch als schmal dargestellt wird?

Vollkommen unpassend. Ich liebe es, an die Grenzen zu gehen, auch wenn ich alleine trainiere, bin ich unheimlich hart zu mir selber. Aber deshalb muss ich mich nicht erniedrigen oder respektlos behandeln lassen. Ich habe Aussagen zu hören gekriegt wie: „Wenn ich dich sehen muss, dann muss ich kotzen. Obwohl du kotzen solltest.“ Eine Trainerin, die so etwas sagt, ist nicht geeignet.

Sie haben Missstände früh angekreidet, auch Tabea Alt hat einen Brief geschrieben, als sie noch aktiv war. Wie wurden die Vorstöße damals wegmoderiert?

Wenn es brenzlig wurde, wurde auch gesprochen. Mit der Bundestrainerin, einer Pädagogin und zertifizierten Mentaltrainerin wohlgemerkt. Mit dem damaligen Präsidenten, den sportlich Verantwortlichen. Die Konsequenz aber war es, viel zu versprechen, sich als „Mutter Theresa“ zu rühmen, als Vorreiter einer Kultur des Hinsehens darzustellen. Passiert ist genau: nichts.

Fehlt dem Verband der Weitblick?

Auf dem Papier gibt es ach so tolle Konzepte – die führen aber zu nichts, wenn ich nicht ins Handeln kommen möchte. Ich kann noch so viele Slogans wie „Happy Healthy Athletes“ in die Welt schießen und sie in der Praxis nicht umsetzen. Ich sage mal so: Der neue Bundestrainer ist in seiner Heimat Niederlande auch kein unbeschriebenes Blatt. Das sagt doch eigentlich alles. Das System deckt sich selbst. Sind wir mal gespannt was mit den kurzzeitig freigestellten Trainern passiert. In meinen Augen werden die bald wieder tätig sein. Das würde dann einmal mehr zeigen, dass ein Wandel nicht gewünscht ist.

Ein Gespräch mit dem DTB haben Sie bisher abgelehnt. Warum?

Was bringt es mir, ihnen zu erläutern, was sie seit Jahren wissen? Um dann wieder alles zu verdecken? Interne Gespräche sind nicht zielführend. Und vor allem: Sind sie ernstgemeint? Da hätten wir uns im Kreis gedreht, und zwar nicht nur ein Mal.

Wie kann der Turn-Around gelingen – können Sie eine Rolle spielen?

Es braucht personelle Veränderungen, eine komplett unabhängige Aufarbeitung, die nicht vom Verband gezahlt und in Auftrag gegeben wird. Es braucht Transparenz. Zumal der Verband bereits zugegeben hat, dass er in der Umsetzung nicht erfolgreich war. In meinen Augen war der Strukturwandel lediglich eine glänzende Fassade, um sich gut zu verkaufen und Preise dafür abzusahnen. Erst wenn ein Maßnahmenplan vorliegt, wenn die externe Instanz die Federführung innehat, sage ich: Da bin ich dabei. Denn dann könnte man das Ganze von Grund auf aufarbeiten und dort ansetzen, wo das Handeln schiefläuft. Allerdings würde da natürlich einiges ans Licht kommen, was dem Verband gar nicht gefällt.

Wie groß ist Ihr Optimismus, dass es gelingt?

Er hält sich in Grenzen, leider. In meinen Augen wird der Verband eine externe Instanz beauftragen, um sich selbst untersuchen zu lassen. Das schreit doch dann nach Befangenheit. Dabei liebe ich diesen Sport. Er ist so wichtig, liefert so viele wichtige Werte, so viel Körpergefühl wie keine andere Sportart. Wir haben so viele Talente, die nicht mal bis ins Seniorenalter kommen, weil sie so kaputt gemacht werden. Ich weiß, was dann auf sie zukommt. Wie viel Kraft es kostet, wieder zurück ins Leben zu kommen. Das wäre vermeidbar. Und dafür werde ich weiter kämpfen.


INTERVIEW: HANNA RAIF

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