Alarmstufe Streif

von Redaktion

Messungen, Netze, Wasser: So versucht Kitzbühel sein Monster zu zähmen

Branchenprimus Marco Odermatt in der Mausefalle. © Red Bull

Spektakulärer Blick – aber nur für die Fotografen: die Athleten biegen nach der „Hausbergkante“ in die kräftezehrende „Traverse“ ein. © Red Bull

Professor Kurt Schindelwig (re.) bei einer Sprungmessung.

Start in die Streif: Ganz oben im Bild die „Mausefalle“, darunter geht es ins „Karussell“.

Kitzbühel – Max Franz hatte keine Chance. 2016 war es auf der Streif, als der Österreicher nach der Mausefalle in die Kompression fuhr. Das Flachstück war einfach nur brutal eisig und hart wie Beton. Franz zerschmetterte sich in seinem Skischuh die Ferse, so hart waren die Schläge, die der 100-Kilo-Mann aushalten musste. Das Außergewöhnliche: Max stürzte nicht, er fuhr weiter. Wie ist das aber möglich, dass ein Rennfahrer sich das Fersenbein, das in einem Skistiefel steckt, der so fest wie ein Schraubstock ist, bricht? Und das, ohne zu stürzen. Franz vergleicht das mit einem Autounfall. Als würde man auf der Autobahn über einen Bordstein knallen. Danach sei einfach alles kaputt: Reifen, Felge, Achse, Auto. Alles Schrott.

Am Samstag schaut die Ski-Welt wieder auf das legendäre Hahnenkamm-Rennen. Aksel Lund Svindal, der Ski-Weltmeister sagt: „In Kitzbühel geht es ums blanke Überleben.“ Für die Verantwortlichen des Kitzbüheler Ski-Clubs (KSC) ist es daher eine Gratwanderung zwischen Spektakel und Sicherheit. Sie wollen keine Verletzten mehr zu verantworten haben und wissen: Eine schlecht präparierte Stelle kann das Karriereende bedeuten. Mit einem Bündel an drastischen Maßnahmen versuchen sie das Monster, die Streif, zu zähmen.

Ein wichtiger Mosaikstein ist die Verpflichtung von Kurt Schindelwig durch die FIS. Der Professor am Institut für Sportwissenschaft an der Universität Innsbruck schrieb bereits 2014, dass Weltcup-Skirennen absoluter Hochrisikosport seien. Schuld seien die weiten und riskanten Sprünge. Es gab Veranstalter, so Schindelwig, die hätten schlicht und einfach den Sprung falsch eingeschätzt, erklärt er. „Am Schluss ging der Sprung dann doch 10, 15 Meter weiter als gedacht“, sagt er. Das kann bei einem Speed der Top-Fahrer von 130, 140 Sachen verheerende Auswirkungen haben. Aus diesem Grund reiste der Universitäts-Professor bereits am vergangenen Sonntag nach Kitzbühel und vermaß zusammen mit Rennleiter Mario Weinhandl und Pisten-Chef Herbert Hauser die Streif. Was das heißt?

Schindelwig fährt selbst an neuralgische Punkte wie die Mausefalle, die gefühlt so steil wie eine Hauswand ist. Bevor die Rennfahrer hier ankommen, beschleunigen sie binnen drei Sekunden auf 100 km/h, donnern dann bis zu 80 Meter weit. Schindelwig steht nun genau an dieser Stelle, legt seinen zwei Meter langen Neigungsmesser an und gibt die Daten vom Sprung in die speziell für den Ski-Weltcup entwickelte Simulationssoftware ein. Binnen Minuten kann das Sicherheits-Quartett um FIS-Renndirektor Hannes Trinkl, Pistenchef Herbert Hauser, Rennleiter Mario Weinhandl und Schindelwig sehen, wo Korrekturbedarf ist.

Eigentlich, so sagt es Jan Überall, der Generalsekretär des Kitzbüheler Ski Club und Geschäftsführer des Streif-Ausrichters, der „Hahnenkamm GmbH“, hätte er gegenüber den Athleten zwei Aufgaben. Einerseits sei es seine Pflicht, den Adrenalin-Junkies eine herausragende Rennpiste zu präsentieren. Dann müsse er aber auch gegen die Interessen der Rennfahrer zu deren Wohl handeln. Denn die wollen nur eines: so schnell als möglich ins Tal rasen. „Unsere wichtigste Aufgabe ist es, alle sicher ins Tal zu bringen und zu sorgen, dass die Rennstrecke trotz des aggressiven Materiales noch fahrbar bleibt“, sagt Überall. Dafür arbeiten am Renntag 1500 Männer und Frauen.

Wenn einer weiß, wie sehr die Sicherheitsvorkehrungen verschärft wurden, dann ist es Tom Voithofer. Tom ist der Sicherheitschef und damit der „Herr der Netze“. Allein in den vergangenen Tagen verlegte er mit seinen 30 „Sicherheitsbeamten“ 1700 Meter A-Netze und 1300 Gleitplanen. Die seien die wichtigsten, sagt Voithofer, weil sie an den Passagen verlegt wurden, an denen es besonders heikel zugeht, wie der 85 Grad steilen Mausefalle oder dem Steilhang.

Denn wenn ein Rennfahrer wie das „Dickerchen“ – so nennen Freunde Italo-Abfahrer Dominik Paris – in das Fangnetz knallt, wirken Kräfte von 14G. Paris muss 1600 Kilo Fliehkraft aushalten. 1600!

Damit nichts passiert, verlegt Voithofer weitere 13 000 Meter B-Netze, 1800 Meter BC-Netze, 1500 Meter Gleitzaun, 132 riesige Luftmatten und 180 Aufprallschutzmatten. „Der Fahrer, der mit Voll-Speed in ein A-Netz fliegt, wird durch dieses erst abgefedert, dann auf die Piste zurückbefördert“, erklärt Tom. Und die B-Netze? Diese sollen peu à peu die Geschwindigkeit der Racer beim Unfall rausnehmen. Und was heißt das? „Er kracht von einem Netz durchs Nächste.“ Sicherheit geht vor Spektakel.

Das lebt vor allem Rennleiter Mario Weinhandl vor. Besonders stolz ist er auf seine „Güllewerfer made by Kitzbühel“. Statt Kuhmist versprüht Weinhandl mit seinem Team tausende Liter Wasser. „Viele denken ja immer, dass wir Spaß daran hätten, die Streif besonders eisig zu machen“, sagt Weinhandl. Das sei Blödsinn. Weinhandl macht das nur wegen der Sicherheit der Fahrer. Würde Weinhandl das nicht machen, würde bereits der vierte oder fünfte Fahrer mit seinen skalpell-scharfen Kanten tiefe Furchen in den Schnee bohren. Die Folge: Die Fahrer, die danach starten würden, würden wie auf einer Bobbahn fahren und im schlimmsten Fall in hohem Bogen rausfliegen.

Was es heißt, auf dem Ungetüm zu arbeiten, davon kann Gerhard Hühnersbichler ein Lied singen. Jeden Morgen steigt Gerry in sein 14 Tonnen schweren Pistenbully, streift die Hausbergkante und die Traverse glatt. Im Jahr 2016 krachten dort Hannes Reichelt, Georg Streitberger und Aksel Lund Svindal, alle drei Favoriten, erst aufs blanke Eis. Danach lagen alle im Krankenhaus.

Und dann gibt es noch Stefan Seeber. Der „Head of Snow“ kann auf seinem Bildschirm bis auf den Zentimeter genau nachschauen, wie viel Schnee auf der Streif liegt. Braun bedeutet, hier liegt mehr als einen Meter Schnee. Blau zwischen 50 und 75, grün zwischen 25 und 50 Zentimeter. Heikel wird es bei Rot: Rot heißt weniger als 25 Zentimeter. Alarmstufe rot. Alles für die Sicherheit der Rennfahrer.

Ein gewisses Restrisiko bleibt aber immer, das hat das Training am Mittwoch gezeigt. Der Deutsche Jacob Schramm wurde nach einem schweren Sturz mit dem Rettungshubschrauber in das Krankenhaus im nahen St. Johann geflogen. Von dort wird er nach DSV-Angaben in die Unfallklinik in Murnau verlegt werden. Bereits zuvor musste der österreichische Nachwuchsfahrer Felix Hacker, derzeit Führender im Abfahrts-Europacup, seine Fahrt abbrechen, weil er sich bei einem Schlag einen Kreuzbandriss zugezogen hatte.
ANDREAS HASLAUER

Artikel 1 von 11