Heldin oder Wahnsinnige?

von Redaktion

Analyse vor Kandahar-Start: Vonns Titan-Knie spaltet sogar die Ärzte-Szene

Nicht Vonns Knie – aber so sieht eine Schlittenprothese aus. © Imago/Weber

Cortina d’Ampezzo: Vonn stürzte im Training. © Trovati/dpa

Inspiration oder falsches Vorbild: Die Speed-Queen will bis Olympia 2026 fahren. © IMAGO

Es gibt nur ein Gas – Vollgas: Vonn kehrte so zurück, wie sie den Skizirkus verlassen hatte. © Groder/AFP

München/Garmisch – Zwei Stürze in vier Tagen. So hatte sich Lindsey Vonn das Comeback auf ihrer Lieblingspiste vergangenes Wochenende in Cortina d‘Ampezzo nicht vorgestellt. Das Positive daran: das operierte rechte Knie hielt dem Stand. Das fand auch die Speed-Queen selbst. „Die Tatsache, dass ich wieder hier bin, ist an sich schon ein Wunder“, so Vonn. „Ich habe jetzt Titan, also kann mich nichts mehr aufhalten“.

Prof. Dr. Joachim Grifka sieht das anders, seiner Meinung nach spielt die 40-Jährige mit dem Feuer. „Mir ist völlig unverständlich, warum ihre beratenden Ärzte für den Renneinsatz grünes Licht gegeben haben. Extrembelastungen eines eingesetzten künstlichen Gelenks wie bei einem Highspeed Skirennen hält ein Knochen nicht aus“, sagt der Kniespezialist vom spectrum MED in München. „Entweder er bricht oder die Prothese lockert sich.“

Die US-Amerikanerin, die am Samstag in Garmisch auf der Kandahar-Abfahrt bis zu 85 Prozent Gefälle überwinden muss, ließ sich im Februar 2024 ein künstliches Gelenk einsetzen. Allerdings „nur“ eine sogenannte Schlittenprothese – also ein halbes Gelenk. Dabei bleibt genügend „lebendiges“ Material für die nötige Feinmotorik, die essenziell ist, um Abfahrten über 100 km/h zu bestreiten.

Für Dr. Manuel Köhne, Mannschaftsarzt des deutschen Ski-Nationalteams, ist dieses Detail entscheidend. „Ein halbes künstliches Gelenk ist von der Anatomie her fast gleich wie ein gesundes Knie. Das ist in etwa so, als würden sie bei einem Auto nur die Türe austauschen.“ Mit einem komplett künstlichen Gelenk wäre die Kraftübertragung insbesondere in gewissen tiefen Winkeln, die bei Abfahrten nötig sind, anatomisch nicht mehr uneingeschränkt möglich. Sorgen macht sich der Experte vom OCM in München, der Vonns Röntgenbilder kennt und die Operation verfolgt hat, deshalb nicht: „Ich stehe zu der Entscheidung. Lindsey ist ein Tier. Ich kenne keine Frau, die so austrainiert ist, deswegen klappt das.“

Das spiegelt sich auch in den bisherigen Platzierungen wider: In Sankt Anton fuhr die Olympiasiegerin in der Abfahrt auf den sechsten Rang, im Super-G wurde sie sogar Vierte. Wichtig für alle Hobbyfahrer: Vonn hat keine Sportprothese implantiert bekommen, mit der alles möglich ist – und nun auch Otto-Normal-Sportler Wunder vollbringen können. „So etwas gibt es nicht“, so Grifka.

Bei einer Abfahrt wirken Fliehkräfte bis zu 10G, also das 10-fache des eigenen Körpergewichts, auf die Athleten und somit auch auf eine Knieprothese. Prof. Grifka gibt zu bedenken, dass dabei die Grenzschicht, in der Metall und Knochen aufeinandertreffen, besonders gefährdet ist, da sich der Knochen unter diesen großen Belastungen deutlich schneller verformt und die Prothese an Halt verliert.

Damit hat er laut Köhne Recht, es gibt immer ein Restrisiko, aber: „Das ist kalkulierbar.“ Zumal derzeit nichts darauf hindeutet, dass ihr Knie bei den bisherigen Einsätzen Schaden erlitten hätte. „Soweit ich von den amerikanischen Physiotherapeuten gehört habe, ist Lindseys Knie top in Schuss. Es geht ihr deutlich besser als vor der Operation“, so der DSV-Mannschaftsarzt.

Aber wie steht es um die Langzeitprognose? Bei rund 95 Prozent der Patienten ist das künstliche Gelenk nach über zehn Jahren noch voll in Kontakt. „Lindsey muss bei der Standfestigkeit vielleicht ein paar Punkte abziehen“, sagt Köhne. „Aber die Rechnung dürfte für sie definitiv aufgehen.“ Grifka hält dagegen: „Eine normale Abfahrt macht mit einer Knieprothese keine Probleme, aber mit dieser Belastung des Rennsports wette ich, dass das maximal drei Jahre gut geht.“
MATHIAS MÜLLER,

LINDA MÜLLER

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