Die neue Kapitänin Giulia Gwinn. © Dedert/dpa
Frankfurt – Das Thermometer zeigte null Grad, als die deutschen Fußballerinnen bei wolkenlosem Himmel und bestem Blick auf die Frankfurter Skyline ihr Training auf dem DFB-Campus abhielten. Giulia Gwinn hatte am Dienstagvormittag im Gegensatz zu vielen Mitspielerinnen darauf verzichtet, sich ein Stirnband anzulegen. Wenn eine sich gewisse Härten in ihrer Karriere angeeignet hat, dann eine der weltbesten Rechtsverteidigerinnen, die aus zwei Kreuzbandrissen jeweils noch stärker zurückgekommen ist. Nach der rund anderthalbstündigen Einheit in der Vorbereitung auf die Nations-League-Spiele gegen die Niederlande in Breda (Freitag 20.45 Uhr/ARD) und gegen Österreich in Nürnberg (Dienstag 18.15 Uhr/ZDF) bestätigte Bundestrainer Christian Wück, was sich angedeutet hatte: Die Stehauffrau Gwinn wird die DFB-Frauen als Kapitänin zur EM in der Schweiz (2. bis 27. Juli) führen.
„Giulia ist eine absolute Leistungsträgerin. Sie ist eine Persönlichkeit, die auf und neben dem Platz vorangeht“, begründete der Bundestrainer seine Wahl. Der 51-Jährige hatte sich lange genug ein Bild vom Gefüge gemacht, um nun offiziell die logische Spielführerin zu bestimmen. Gwinn sprach von einer großen Ehre, in einer Reihe mit Birgit Prinz, Nadine Anger oder Alexandra Popp genannt zu werden. „Das ist unglaublich, unbeschreiblich, auch noch nicht ganz real. Ich habe gute Beispiele, wie man eine Mannschaft mitreißen kann“, sagte die 25-Jährige, die aber mit einem Augenzwinkern ankündigte, sie wolle auf dem Platz „nicht so herumbrüllen“ wie die im Herbst verabschiedete Popp. Der 57-fachen Nationalspielerin schwebt eher ein Führungsstil vor, wie ihn Bastian Schweinsteiger bei den Männern praktizierte, den sie als Vorbild titulierte: „Ein emotionaler Leader, auch wenn alle Knochen weh tun.“
Die Nationalspielerin des Jahres 2024 hat sich inzwischen vom Status der Social-Media-Queen emanzipiert: Sie übernimmt als sichere Elfmeterschützin (14 Anläufe, 14 Treffer) Verantwortung, hat nach ihren langen Zwangspausen das Profil als Persönlichkeit deutlich geschärft. Sie habe sich dadruch eine andere Selbstsicherheit geholt, gab Gwinn zu. Bei der WM-Blamage 2023 in Australien legte sie als ZDF-Fernsehexpertin den Finger durchaus in die Wunde, ohne dabei zum Rundumschlag auszuholen. Schon damals hatte sie betont, dass sie sich nicht als Influencerin sehe, auch wenn sie auf Instagram mehr als 630 000 Follower vereint.
Wutreden sind ihre Sache eher nicht. Bei der WM 2019 zur besten Newcomerin gewählt, kommt der Aufstieg zum Sprachrohr bei der EM 2025 genau richtig. Spannend in diesem Zusammenhang, dass Wück mit Janina Minge eine aufstrebende Leistungsträgerin vom VfL Wolfsburg zur Vertreterin macht.„Wir kennen uns, seit wir mit elf erstmals in der Auswahl gespielt haben. Mit 16 sind wir zusammen nach Freiburg gewechselt“, erzählte Gwinn. Verständigungsschwierigkeiten gebe es mal keine.
Sara Däbritz war trotz ihrer 105 Länderspiele und 30 Jahren keine Kandidatin. Viele hätten sich auch Lena Oberdorf vorstellen können, aber die 22-Jährige kuriert noch ihren Kreuzbandriss aus. Insofern hört vorerst alles auf Gwinn, die versicherte: „Ich muss mich nicht verändern, sondern werde mir treu bleiben. Ich möchte eine Schulter zum Anlehnen bieten.“ Klang fast herzerwärmend an diesem kalten Tag in Frankfurt.
FRANK HELLMANN