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Medienzentrum Löwen-Stüberl

von Redaktion

Von 1992 bis 2001: Tägliche Lorant-Show in Christls Boazn

Lieblings-Stammgast: Wirtin Christl mit Lorant. © T. Exler

Lorants tägliche Presserunde: Der Kulttrainer mit Claudius Mayer (tz/li.), Thomas Nuggis (BILD) und einem jungen Reporter an seinem Stammplatz im Löwen-Stüberl. © Stefan Matzke

München – Am Ende war es, als hätte jemand dem Löwen-Stüberl die Energie entzogen. Sein Stammplatz an der holzvertäfelten Eckbank: verwaist. Christls Espressomaschine: zischte und dampfte kaum noch. Und hinter der Theke stand eine traurige Wirtin. Nicht nur am Tag der Trennung vergoss die Christl viele Tränen. Schminkflecken am Dirndl – es war ihr egal. Es dauerte Wochen, bis sich Christl Estermann einen Stüberl-Alltag ohne ihren Lieblings-Stammgast vorstellen konnte. Ohne Werner Lorant.

Lorant: Offene Zeche über 120 000 Mark

Ja, auch die Christl war eine große Verliererin der Trainerentlassung am 18. Oktober 2001. Ihr „Löwen-Stüberl“ am Eingang des Vereinsgeländes: Neun Jahre lang war es ein viel beachteter Hotspot im Münchner Fußballkosmos, ein Ort, an dem Schlagzeilen geschrieben wurden. Doch plötzlich, ohne ihre „Expresso“ schlürfende Attraktion: Wirkte Christls Flachdachbau wie eine stinknormale Boazn. Einmal, gegen die große Leere, rechnete die Christl aus, was es ihr wert gewesen ist, ihren Lorant täglich umsorgt zu haben. Tafelspitz war seine Lieblingsspeise, im Winter ließ er sich auch gerne eine Hühnersuppe zubereiten. Dazu kamen – je nach Tagesform und Vorabend – viele, viele seiner schwarzen Koffeinshots. Stillschweigend wurde alles angeschrieben, auch Lorants Marlboro-Zigaretten, stangenweise. Unter dem Strich standen 120 000 Mark – für die längste nicht bezahlte Zeche der Welt. Nicht dass Christl das Geld wiedersehen wollte, das nicht. Sie lieferte damit aber eine letzte große Lorant-Schlagzeile – auch um aufzuzeigen, wie groß für sie der Werbewert war, den ihr der prominente Gast frei Haus lieferte. Viele, viele Besucher waren ja nur wegen ihm gekommen, und bei weitem nicht nur 1860-Fans.

In Lorants Hochzeit konnte man froh sein, in Christls Stüberl einen halbwegs guten Platz zu bekommen. Gut hieß: Mit Blick auf die Eckbank. Dort nahm er täglich Platz, ach was: Dort hielt er Hof, immer nach dem gleichen Muster. Kam rein, hielt im Türrahmen erst mal inne, die Gäste mit Feldherren-Geste musternd. „Was willst du, Urlauber?“, lautete eine typische Lorant-Begrüßung, auch in Richtung der Journalisten, die sich an seinem Ecktisch niederließen, die Sitzordnung starr wie bei einer alten Familie: tz neben Lorant auf der Eckbank. BILD gegenüber, die übrigen Zeitungen auf den Plätzen. Spannend war es, wenn eine Zeitung zum ersten Mal einen jungen Reporter entsandte – die knurrige Aura von Werner Beinhart ließ auch aufgeweckte Gemüter verstummen.

Ein Trainerkauz, der täglich sendet – schon damals eine Besonderheit. Im modernen Fußball schottet man sich ab, lädt zweimal die Woche zu Pflichtterminen, lässt sich jedes noch so kleine Zitat autorisieren. Bei Lorant gab es täglich „Pressekonferenzen“, je nach Themenlage bis zu zwei Stunden lang. Manchmal brauchte es verbale Schlenker, um das Eis zu brechen, über das Wetter, das Fernsehprogramm („Gestern 2. Liga geschaut?“) oder die Wiesn („Interessiert mich nicht!“). Aber wenn er erst mal in Fahrt kam, dann war die Schlagzeile für den nächsten Tag „im Block“ – man schrieb damals tatsächlich noch mit echten Kugelschreibern in Spiralblöcke aus echtem Papier.

Lorant wusste natürlich um seine Wirkung. Trotz seiner spröden Art war er das Gegenteil eines „Journalistenfressers“ à la Hans Meyer. Im Gegenteil, er hatte sogar Verständnis für das berufsbedingte Fragebedürfnis. „Manchmal ist einfach nichts los“, sagte er in einer 1998 erschienenen Biografie: „Da können einem die Reporter schon ein bisschen leidtun. Dann muss man als Trainer auch mal was erfinden. Irgendeine Kleinigkeit, damit die wenigstens was zu schreiben haben.“ Sogar der Spiegel, Deutschlands Nachrichtenmagazin Nummer eins, schickte Redakteure für mehrseitige Vor-Ort-Reportagen vorbei.

Und auch das gehörte zur täglichen Lorant-Show: Dass der Trainer-Zampano seine Spieler, die am langen Tisch neben dem Eingang zu Mittag aßen, indirekt abkanzelte. Clever ließ er bei seinen Presserunden Namen fallen, sagen wir Horst Heldt, aber stets nur so leise, dass der betroffene Spieler den Inhalt der Kritik nicht mitbekam. Den konnte er ja dann am nächsten Tag den Zeitungen entnehmen. Sinne schärfen nach Lorants Art. Online-Blogs, die quasi in Echtzeit Zitate verbreiten, gab es damals nicht, auch nicht TikTok, Instagram und Co. Zum Glück, muss man im Nachhinein sagen, denn allein die Tatsache, dass bald jeder ein Handy hatte, war dem analogen Grantler suspekt. Wehe, es hat mal eines gebimmelt, wenn Lorant gerade die volle Aufmerksamkeit für sich beanspruchte.

Neun Jahre unterhielt Lorant auf diese Weise das Löwen-Stüberl, von seinem ersten Arbeitstag am 1. Juni 1992 (Bayernliga) – bis zum 18. Oktober 2001 (Bundesliga), als der letzte Ballonseide-Trainer Deutschlands nach einer 1:5-Derbyklatsche von Karl-Heinz Wildmoser vor die Tür gesetzt wurde. Das Verhältnis zu seinem Präsidenten: Auch das hatte zum Schluss gelitten. Verärgert, dass „der Alte“ ab 2001 den Arena-Bau forcierte und seinen Fokus vom Sport abzog, bekam auch Wildmoser hin und wieder sein Fett weg. Anders als Lorant ließ sich Wildmoser kaum in Christls Stüberl blicken. Er hatte sein eigenes Medienzentrum: den Gasthof Hinterbrühl auf der anderen Seite der Isar. Wildmoser hielt bei 1860 bis zum Arena-Skandal durch (März 2004), doch auch Lorant blieb noch länger präsent. Hinter seinem Stammplatz, der nun leer blieb, hängte die Christl eine Foto-Collage auf. Erst im Laufe der Jahre wurde sie ersetzt – durch ein Werbeplakat für die WM 2006.
ULI KELLNER

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