Bulle oder Kälbchen? Reporter Andreas Haslauer.
Brutal: Der Anstieg am Start fordert alles – auch wenn nur überschaubare 150 Meter zu überwinden sind.
Und los geht die wilde Jagd: Neun Kilometer lang ist bremsen für die Rausch-Abenteurer verboten.
St. Anton – Der Weiße Rausch – klingt doch gar nicht so bedrohlich, oder? Ist es aber: Wenn am Ende der Skisaison in St. Anton der Weiße Rausch steigt, dann treffen sich hunderte Hobby-Rennfahrer zum härtesten Skirennen der Welt. Mit mehr als 120 Sachen stürzen sich Speed-Junkies und Testosteron-Bolzen über knöcheltiefe Eiswasserpfützen und hüfthohe Matsch-Buckel. Mittendrin: Unser Reporter Andreas Haslauer. „Mein Ziel ist es, das Monster am Oster-Wochenende zu bezwingen – und in einem Stück unten anzukommen“, sagte er vor dem Rennen. Das hat er geschafft. Aber wie brutal es war, lesen Sie hier:
Mein Selbstbewusstsein rauscht in den Keller. Normalerweise, so rede ich mir das ein, gehöre ich in jedem Skigebiet zu den besten Skifahrern. In diesem Moment, als ich zwei Stunden vor dem Rennen die Valluga-Bahn hochfahre, fühle ich mich jedoch, als hätte ich Pizza (Pflug) und Pommes (Schuss) erst gestern gelernt. Neben mir stehen Typen mit Oberschenkeln wie die Rindviecher bei der Stierhatz in Pamplona: stark, muskulös, mit genauso viel Adrenalin im Körper. Das kann man in der überfüllten Gondel riechen. Ich fühle mich jedoch nicht wie ein Bulle, sondern eher wie ein süßes Kälbchen.
Noch dazu sind heute alle noch nervöser als sonst. Normalerweise starten alle Racer in einem Halbkreis oben an der Valluga beim Massenstart. Weil dort laut dem Rennleiter Peter Mall jedoch „gut zehn Meter“ Schnee fehlen, verlegte er den Start in die erste Senke. Alles andere wäre auch unverantwortlich, ist das Rennen schließlich an sich schon unverantwortlich. Denn alle Rennfahrer wissen: gleich wird es verdammt wehtun, alle Muskeln und Lungen werden wie Feuer brennen.
„Der Rausch ist härter als Bormio, härter als die Streif in Kitzbühel“, sagt Paul Schwarzacher, der neun Mal gewann. Bei den meisten Weltcup-Abfahrten kann man mal in einer Gleitpassage durchschnaufen. Beim Rausch donnert man minutenlang ohne Verschnaufpausen volle Kanne über ein schier endloses Meer aus Buckeln und Schneematsch. Und: Bei diesem Rennen gibt es keine Tore und auch keine präparierte Piste. Zum Start um 17 Uhr haben die Tagesskifahrer ihren Job erledigt, die Piste ist in gewollt miserablem Zustand. Die Regeln sind simpel: Wer als erster nach neun Kilometern unten ankommt, hat gewonnen.
Noch eine Minute bis zum Start. Mehr als 555 männliche und weibliche Biester stehen in drei Gruppen bereit. Zuerst die jungen Bullen. Ich, mittlerweile Ü-50, bin in der zweiten Startgruppe, schließlich habe ich die Gnade der frühen Geburt. Titelverteidiger Dieter Bischof, 2015-Sieger Jochen Riexinger und Dominik Schranz, der 2019 den Rausch gewann, warten auf den Startschuss. Peng! Wir stapfen den steilen Hang hinauf. Eigentlich sind es nur 150 Meter. Aber es ist die Hölle. Das Herz pumpt auf gut 2800 Metern Höhe alles, was im Körper an Blut vorhanden ist, in die Muskeln. Es dauert nur Sekunden, dann schießt auch das Laktat in den Körper. Top-Racer wie Jochen leiden nach dem Rausch wochenlang an Husten. „Die Lunge ist für die brutale Belastung nicht gemacht“, erklärt ÖSV-Mann Schwarzacher.
Oben angekommen schnallen sich alle ihre Skier an. Oder sagen wir es so: Sie versuchen es. Einige schwanken wie nach einem Oktoberfest-Besuch. Trotzdem gilt die goldene Regel von Rausch-Sieger Riexinger: „Kein Schwung vor der Ulmer Hütte!“ Aber nicht bei mir, ich stelle meine Latten quer. Mir! Ist! Es! Einfach! Zu! Schnell! Plötzlich höre ich einen Schrei von hinten. Mei, da wird es halt einen „Konkurrenten“ aufgestellt haben. Dann nehme ich zwischen meinen Füßen einen gelben Fischer-Ski wahr. In dem Moment realisiere ich, dass es bei Tempo 90 gleich knallen wird. Wie eine Kugel schieße ich über die Sulz-Piste, der Typ, der mich umgenietet hat, liegt neben mir. Und nur Zentimeter neben uns donnern Rennfahrer mit 100 Sachen vorbei. Meine Skibrille ist voller Schnee, ebenso meine Hose und Jacke – ja selbst in meiner Unterhose liegt gefühlt ein halber Meter Sulz. Weiter! Ich schieße Richtung Kandahar, sie ist jetzt ein einziges Buckelmeer. Egal, trotzdem Vollspeed! Was alle Crash-Piloten vereint? Knochen brechen, Sehnen reißen. So auch dieses Jahr. Einmal musste der Heli kommen, ein paar Mal der Akia.
Ich donnere an der legendären Après-Ski-Hütte Mooserwirt vorbei. Meine Oberschenkel, brennen. Was ich dann sehe, überrascht mich. Am Zielhang stehen tausende von Menschen. Sie jubeln, feuern einen an. Ich fühle mich so, als würde ich die Streif gewinnen. Die Favoriten kommen fast gleichzeitig vor den drei Schneehaufen, die der Veranstalter für uns „aufgebaut“ hat, an. Auf allen Vieren klettern sie darüber. Bischof gewinnt, Schranz wird Zweiter, Riexinger Vierter. Minutenlang liegt Riexinger da. Seine Zeit: 10:13 Minuten. Gut sieben Minuten danach bin ich im Ziel – und kurz darauf ist mein Selbstbewusstsein zurück, wie alle Teilnehmer will ich 2026 wiederkommen.
ANDREAS HASLAUER