Mit einer wahnsinnigen Parade entschärfte Yann Sommer einen Schuss von Lamine Yamal und sicherte Inter Mailand, nicht nur in dieser Szene, den Einzug ins Finale. © Cruciatti/AFP
Mailand – Es war schon weit nach Mitternacht, als Yann Sommer immer noch in Torwartklamotten im gewaltigen Giuseppe-Meazza-Stadion stand. Die Interviews im Nachgang eines epischen Halbfinaldramas halfen insbesondere dem von der Uefa zum „Man of the Match“ gekürten Torhüter von Inter Mailand, die Gefühle irgendwie zu verarbeiten. Am Tisch von Prime Video, wo Sommer seinen langjährigen Mitspieler Christoph Kramer aus Mönchengladbacher Zeiten traf, verriet er, warum ihm direkt nach Schlusspfiff die Tränen kamen: „Unglaublich. Ich bin 36 Jahre, nicht mehr der Jüngste. Und jetzt darf ich mit dieser Mannschaft ein Champions-League-Finale spielen. Ich könnte nicht glücklicher sein.“ Nach einem epochalen Triumph gegen den FC Barcelona (4:3 n.V.) rang sogar dieser Fußballprofi mit der emotionalen Kontrolle.
Irgendwie keine Ironie der Geschichte, sondern eher Belohnung seiner Bescheidenheit, dass der Schweizer Rekordtorhüter dieses Endspiel am 31. Mai in München bestreitet. Dort, wo Sommer nach seinem Wechsel zum FC Bayern im Januar 2023 nie richtig ankommen sollte. Weil er nicht die Backen aufblies, weil er nicht die Ellbogen ausfuhr? Wirklich zu beweisen wird das wohl niemals sein, doch Fakt ist, dass in achteinhalb Jahren bei Borussia Mönchengladbach zum einem der besten, weil verlässlichsten Ballfänger der Bundesliga aufgestiegene Gentleman früh in Frage gestellt wurde.
Taugt dieser Tormann wirklich als Ersatz für den übermächtigen Manuel Neuer, der damals seinen Beinbruch auskurierte. Ohne das vorbehaltlose Vertrauen funktionierte Sommer nicht. Das Champions-League-Aus gegen Manchester City (0:3, 1:1) wurde ihm ebenso angelastet wie seine angebliche für einen Klassekeeper zu geringe Körpergröße von 1,83 Metern. Sommer wollte damals nicht länger als Unsicherheitsfaktor gebrandmarkt werden. Obwohl er eigentlich bis 2025 unterschrieben hatte, wechselte er im Sommer 2023 zum FC Internazionale. Ein Abgang durch die Hintertür nach 291 Einsätzen allein in der Bundesliga. Doch die Serie A sollte für ihn wie ein Jungbrunnen sein. Schon an der Meisterschaft 2024 hatte der von Trainer Simone Inzaghi auch für seine gute Fußarbeit geschätzte Stilist Sommer erheblichen Anteil, jetzt verhalf er den Nerazzurri mit seinen famosen Paraden zu einem der größten Siege in einem der besten Champions-League-Spiele der Geschichte. „Der entscheidende Spieler in diesem Spiel war Sommer. Was für ein Auftritt des Schweizer Torhüters. Spektakulär“, schrieb die spanische „Marca“. Und der Schweizer Blick hielt fest: „Grazie mille dürfen alle einem Mann sagen: Yann Sommer.“
Wie er in der Verlängerung den verdeckten Schuss von Lamine Yamal noch um den Pfosten lenkte, verschlug sogar dem Wunderkind die Sprache (114.). Wie er bei einem Überzahlangriff gegen den freistehenden Barca-Torschützen Eric Garcia rettete (57.), wertete Prime-Kommentator Jonas Friedrich als „Parade des Jahrhunderts“. Nur der Held stapelte tiefer: „Ich habe das Glück, dass er in meine Richtung schießt. Du rennst einfach durch und probierst irgendwie, eine Hand an den Ball zu bekommen – wenn er den gerade schießt, ist Tor!“ Lieber wollte er seine Vorderleute loben: „Es ist ein Riesenglaube in diesem Team. Diese Mannschaft ist etwas Spezielles: extrem viel Moral, extrem viel Glaube.“ Und auch die Atmosphäre musste erwähnt werden: „Die Power, die sich in diesem Stadion entwickelt, gibt uns extrem viel.“
Langjährige Wegbegleiter heben an dem aus dem Kanton Waadt stammenden Schlussmann genau das hervor: dass er selbst auf einer Position, in der ein gewisses Ego zwangsläufig vonnöten ist, um die Verantwortung zu schultern, sich als Teamplayer versteht, der sich nicht aufplustern muss. Davon wird auch in der Schweizer Nationalmannschaft immer wieder erzählt, wo er eine Integrationsfigur gab, der nicht nur elegant das Spiel aufbaute – sondern auch das Team zusammenhielt. Die EM 2024 in Deutschland sollte seine letzte Mission für die Eidgenossen sein. Am 19. August 2024 erklärte er nach 94 Länderspielen seinen Rücktritt. Er war zu diesem Zeitpunkt zehn Jahre lang der Stammkeeper der Nati gewesen – danach übernahm Gregor Kobel seinen Job. Der hat mit Borussia Dortmund in Wembley das Champions-League-Finale 2024 verloren – Sommer hat allein mit der Teilnahme an der Auflage 2025 in München gewonnen.
FRANK HELLMANN