Die beste deutsche Turnerin: Kevric musste ohne ihre beiden Heimtrainer weitermachen. © IMAGO/Pestellini
Gerben Wiersma,Turn-Bundestrainer der Frauen. © IMAGO
München – Gerben Wiersma hatte in den vergangenen Tagen viele Sitzungen. Bei der Heim-EM, die im Rahmen des Deutschen Turnfests in Leipzig ausgetragen wird, geht es um Medaillen – aber vor allem darum, nach den Missbrauchsvorwürfen wieder Vertrauen aufzubauen. Ein nicht ganz einfacher Spagat, über den der 48-Jährige im Interview spricht.
Herr Wiersma, die Heim-EM steht an. Spüren Sie mehr Druck als vor einem „normalen“ Großereignis?
Vielleicht ein bisschen. Aber ganz ehrlich: Ich habe nicht gezählt, wie viele Europa- und Weltmeisterschaften ich schon hinter mir habe. Meine erste war 2002, das weiß ich noch. Und ich weiß, dass ich gelernt habe, mit Druck umzugehen. Trotzdem ist die EM, die nun kommt, natürlich speziell.
Die EM ist in das Deutsche Turnfest eingebunden, es werden mehr als 80 000 AthletInnen in Leipzig erwartet.
Ich bin wirklich gespannt auf diese Woche, auf all die Menschen, die da sein werden. Natürlich ist das viel Arbeit für unseren Verband – aber es wird sich lohnen. Die Finals sind schon lange ausverkauft. Ich werde viel eingespannt sein, aber versuche schon, die besondere Atmosphäre, von der alle bei einem Turnfest sprechen, aufzusaugen. Bei den Jugendmeisterschaften, bei der Stadiongala – und überall dort, wo meine Zeit es zulässt. Ich liebe es, von Menschen umgeben zu sein, die das Turnen lieben.
Merken Sie, dass das Ansehen Ihres Sports seit dem Ende des letzten Jahres – seitdem die Welle der Missbrauchsvorwürfe über das deutsche Frauenturnen hineingebrochen ist – gelitten hat?
Natürlich. Aber ich hoffe sehr, dass wir Stück für Stück Vertrauen zurückgewinnen. Die EM soll ein Anfang sein – und unser Team ist vielversprechend. Wir haben so tolle Turnerinnen, die „neue Generation“ zeigt sich jetzt dem Heim-Publikum. Alle von ihnen haben schon mindestens einen großen Wettkampf geturnt, sind aber noch sehr jung. Und wir haben keine Elisabeth Seitz, keine Pauline Schäfer-Betz, keine Sarah Voss, keine Emma Malewski dabei. Sie müssen – oder dürfen – jetzt alleine ins Rampenlicht. Wir haben großes Potenzial.
Ist das ein Anfang für das deutsche Frauen-Turnens nach der Ära Seitz?
Ja. Elisabeth ist aktuell verletzt, sie kämpft aber für ein Comeback. Trotzdem treten die Jungen nun ins Scheinwerferlicht. Was ich in der Qualifikation gesehen habe, stimmt mich positiv. Es wird spannend zu sehen, wie die anderen Nationen im nach-olympischen Jahr aufgestellt sind, denn alle erfahren dasselbe Schicksal: Eine Turnerinnen-Karriere geht nicht ewig. Auch bei allen anderen hören große Namen nach und nach auf.
Die Neuausrichtung, die Missbrauchsvorwürfe: Wie schwer war die Vorbereitung für Sie?
Ich würde lügen, wenn ich nicht sagen würde, dass sie sehr schwer war. Aber ich kann immerhin sagen, dass ich mit meinem Team weiter bin, als ich es gedacht habe. Sie müssen sich ja mal vorstellen, dass sowohl in Mannheim als auch in Stuttgart hauptberufliche Trainer von unseren Elite-Turnerinnen plötzlich freigestellt wurden. Das macht etwas mit den Turnerinnen, das wirft sie in der Vorbereitung zurück. Es waren harte Tage dabei, viel Trauer, Wut und Frust. Trotzdem hat jede für sich mit einem neuen Trainer einen Weg gefunden, aus dem Tal zu kommen, nach vorne zu schauen und sich bestmöglich vorzubereiten. Ich bin schon jetzt stolz auf meine Turnerinnen.
Das prominenteste Beispiel ist Helen Kevric – die beste deutsche Turnerin, die ohne ihre beiden Heimtrainer weitermachen musste.
Es war eine harte Zeit für sie – und es ist immer noch schwierig. Wir versuchen, das Beste draus zu machen, aber es ist ein Prozess, der noch nicht abgeschlossen ist. Im Januar, als die Missbrauchsvorwürfe ihren Höhepunkt erreicht haben, war es wie eine Starre. Aber je näher die EM-Qualifikation rückte, je näher die Heim-EM kam, desto mehr habe ich das Bestreben gespürt, die neue Situation anzunehmen.
Sie predigen seit Jahren: Das Wichtigste ist, Spaß zu haben. Zählt das heute mehr denn je?
Ich spreche ja gerne von „glücklichen, gesunden Turnerinnen“ – das ist mein Ziel. Es heißt aber nicht, dass Turnen immer nur Spaß bringt. Wenn man nur zum Spaß in die Turnhalle kommt, wird es schwer – denn in jedem Leistungssport gibt es Rückschläge, Frustration, nicht immer kommt man weiter. Wer sich dafür entscheidet, in der Elite Turnen zu wollen – oder auch als Trainer aktiv zu sein –, wird damit konfrontiert. Es kann nicht jeder jeden Tag glücklich sein. Das darf man nicht verwechseln.
Sind Sie in den letzten Monaten auch als Coach gewachsen?
Auch ich lerne nie aus. Meine Arbeit sah in den vergangenen Monaten natürlich nicht so aus, wie ich sie mir vor einem Jahr vorgestellt habe. Ich habe viele Gespräche außerhalb der Turnhalle geführt, wir mussten über die akut vorgefallenen Dinge viel reden, sie aufarbeiten und unsere Lehren ziehen. Das ist deutlich intensiver und aufreibender, als mit jemandem die letzte Übung am Stufenbarren zu analysieren. Ich sage mal so: Es ist keine Erfahrung, die ich mir gewünscht habe. Und auch keine, auf die ich in ein paar Jahren gerne zurückschauen werde.
Worauf wollen Sie dann nach der EM zurückschauen?
Ich habe als Minimalziel zwei Finalplatzierungen ausgerufen: eine im Mehrkampf, eine in einem Individual-Finale. Und mit dem Team könnten wir es unter die ersten Fünf schaffen. Womit ich nicht so recht glücklich bin, ist der Modus des neuen Mixed-Team-Wettbewerbs.
Warum?
Die Erholungsphase zwischen Mixed-Wettbewerb und Mehrkampffinale ist meiner Meinung nach zu kurz. Leider kann man außerdem im Mixed die Besetzung nicht wählen, sie ergibt sich aus den Ergebnissen der Qualifikation. Grundsätzlich ist die Einführung eines Mixed-Wettbewerbs eine gute Sache und mit Blick auf die Olympischen Spiele 2028 nachvollziehbar. Nur: Normalerweise kann sich die Turnerin aus den vier Geräten drei aussuchen. Bei der EM sind die drei Geräte vorgegeben – und der Stufenbarren fällt für alle raus. Für meine Turnerinnen, besonders für Helen Kevric, fehlt somit das beste Gerät.