Hero de Janeiro: Bei Olympia 2016 in Rio turnt Andreas Toba in der Team-Qualifikation am Pauschenpferd, obwohl er sich kurz zuvor das Kreuzband am rechten Knie gerissen hat. © Imago
Leipzig – Die vielen „letzten Male“ hat Andreas Toba in den vergangenen eineinhalb Wochen ganz bewusst wahrgenommen. Ein letztes Mal zum Trainingslager in Kienbaum, ein letztes Mal die Tasche für ein Großereignis packen, ein letztes Mal diese Spannung spüren, die auf einem internationalen Turn-Podium aufkommt. „Die Zeit“, sagt der 34-Jährige, „ist schon besonders“, überhaupt läuft all das, was seit der offiziellen Ankündigung seines nahenden Karriereendes auf ihn einprasselt, wie im Film ab. Die Dramaturgie sieht vor, dass Toba, viermaliger Olympiateilnehmer und als „Hero de Janeiro“ bekannt, an diesem Dienstag in der Leipziger Messe-Halle 1 an die Geräte geht. Die Heim-EM – bei der die deutschen Kunstturnerinnen zum Auftakt am Montag überraschend Silber im Team gewannen – ist der persönliche Abschluss des Mannes, der für das deutsche Turnen so viel mehr war als ein wichtiger Punktelieferant.
Salbungsvolle Worte braucht Toba nicht, aber allein die Resonanz auf seine Ankündigung zeigt ihm, dass er in dieser langen und nicht immer einfachen Karriere doch Vieles ziemlich richtig gemacht hat. Natürlich blickt auch er seit geraumer Zeit zurück, im Gespräch mit unserer Zeitung gibt der Hannoveraner zu: „Es wühlt mich immer wieder auf. Denn es sind schon viele Erinnerungen.“ Aber er versucht den letzten Wettkampf, den er im DTB-Leiberl bestreiten wird, genauso professionell zu nehmen wie all die anderen in anderthalb Jahrzehnten zuvor. Er fühlt, sagt er, genau das, was auch Thomas Müller bei seinem Abschied vom FC Bayern immer wieder angesprochen hat: „Thomas hat recht. Man will nicht auf das reduziert werden, was man geleistet hat. Sondern ernstgenommen werden als Leistungssportler. Denn das bin ich – noch.“
Dass die Vorbereitung besser lief als erwartet, passt zum Vorhaben, „mit einer starken Leistung Danke zu sagen“. Den DTB-Pokal im Frühjahr hatte Toba zwar wegen starker Rückenprobleme noch absagen müssen – „der Körper wollte mich wohl daran erinnern, dass es eine gute Entscheidung ist, aufzuhören“ –, nun aber fühlt er sich körperlich „ziemlich gut“. Die EM-Nominierung hat Toba sich erkämpft, im Team des neuen Bundestrainers Jens Milbradt ist er die Führungsfigur. Eine Rolle, in die er Stück für Stück hineingewachsen ist. Bei seinen ersten Spielen 2012 in London turnte Toba mit Fabian Hambüchen, Philipp Boy und Marcel Nguyen, dann lange an der Seite von Lukas Dauser. Nun, wo der letzte Vertreter dieser goldenen Generation die Reckriemchen an den Nagel hängt, steht ein Generationenumbruch an.
Toba wird ihn mitprägen, die Zukunft als Landestrainer in Hannover ist längst geregelt. Er sagt: „Mit meinem Wissen und seiner Erfahrung kann ich Input geben.“ Allein ein Blick auf seine bewegte Karriere reicht, um so viel über diesen so schönen, aber so trainingsintensiven Sport zu lernen. Toba hat sich von zwei Kreuzbandrissen nicht aufhalten lassen, sondern Stärke aus ihnen gezogen. Außerdem war er immer da, wenn er gebraucht wurde. Anders als etwa Hambüchen, Boy, Nguyen und auch Dauser griff er nicht regelmäßig nach Einzelmedaillen. Aber er galt als „Mr. Zuverlässig“ in allen Lebenslagen. Genauso kam es auch zu jener Szene, die ihn weltberühmt gemacht hat. Mit gerissenem Kreuzband ging er in Rio 2016 noch ans Pauschenpferd – und wurde zum Helden.
Ob ihn der Beiname „Hero de Janeiro“ ihn irgendwann genervt hat? „Nein, warum auch? Das bin halt ich.“ Das EM-Silber 2021 am Reck war Tobas persönlicher Höhepunkt; fragt man ihn nach den besten Wettkämpfen seiner Karriere, denkt er aber an andere. WM-Qualifikationen, vorolympische Spiele, Deutsche Titelkämpfe: Toba brauchte nicht die größte Bühne, um sich zu verwirklichen.
Blickt er in den Rückspiegel, gibt es nur eine Sache, die er jetzt anders machen würde. „Es war kaum Zeit zum Atmen“, gibt Toba zu. Dabei hätte es seinem Körper nur gut getan, „hätte ich mich nach einem Höhepunkt mal rausgenommen“. Das Pflichtgefühl hat es nicht zugelassen, als Trainer soll es anders werden. Oder? Toba lacht: „Naja. Ich will schnell reinfinden in den Job. Deshalb geht es gleich los.“
HANNA RAIF