ZUM TAGE

Großer Erfolg, größere Verantwortung

von Redaktion

EM-Silber der Turnerinnen

Wer die deutschen Turnerinnen am Montag in Leipzig gesehen hat, bekam ein Bild vermittelt, das unter dem Motto „Friede-Freude-Eierkuchen“ laufen konnte. Eine tobende Halle, ein gerührter Chefcoach, vier strahlende Heimtrainer, fünf junge Damen, vor Freude außer sich. Die Silbermedaille, die die junge Frauen-Riege des Deutschen Turner-Bundes bei der Heim-EM gewonnen hat, ist eine wunderbare Überraschungs-Geschichte und – das kann man nicht leugnen – ein Statement zur rechten Zeit. Das deutsche Turnen hat eine Zukunft nach Elisabeth Seitz. Und trotzdem hat es so große Probleme, dass die Medaille sie nur kurz überstrahlen kann.

Im Moment eines großen Erfolgs den Zeigefinger zu heben, mag nicht immer sexy sein. Aber wenn ein Verband sich derart schwerwiegenden Vorwürfen gegenüber sieht wie der DTB der seit dem Jahreswechsel, wäre es fatal, einfach mitzujubeln. Die Welle an Missbrauchsvorwürfen war und ist enorm, hochrangige Trainer wurden bereits entlassen. Und dass die Aufarbeitung der Dutzenden Fälle erst am Anfang steht, ist nur logisch. Wie kompliziert sie ist, zeigt allein das Beispiel von Helen Kevric – der besten Deutschen, die in Leipzig nach weiteren Medaillen greifen will. Das Silber vom Montag widmete die 17-Jährige umgehend ihren freigestellten Trainern – und es gibt nicht wenige, die das als Nackenschlag für all die Turnerinnen bewerten, die sich von dem Stuttgarter Duo missbraucht gefühlt haben.

Wo hartes Training aufhört und Missbrauch anfängt, ist auch im Leistungszentrum am Neckar umstritten. Während einige die gefeuerten Coaches als „Bauernopfer“ bezeichnen, beschreiben andere den Schritt als längst überfällig. Menschen, ihre Gefühle, ihre Toleranzgrenzen und Emotionen, sind verschieden, in der Spitze geht es um richtiges Training für Individuen. Aber dieser Fall tangiert auch die Millionen anderer Kinderseelen, die in den 17 000 Turnvereinen in Deutschland ihr Bestes geben wollen, ohne Angst vor dem Scheitern haben zu müssen.

Um sich ihrer Verantwortung bewusst zu werden, müssen die DTB-Bosse dieser Tage in Leipzig nur nach links und rechts blicken. Die EM wird im Rahmen des Deutschen Turnfests ausgetragen, 80 000 Aktive sind dabei. Sie alle brauchen einen Plan, klare Regeln und Handlungsanweisungen für den Alltag in der Halle. Sonst sieht die Zukunft des deutschen Turnens alles andere als Friede, Freude, Eierkuchen aus.

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