Stürmt mittlerweile für Real: Kylian Mbappe. © Del Pozo/AFP
Einer gegen alle: Chwitscha Kwarazchelia. © IMAGO/Firas
Alles hört auf sein Kommando: Luis Enrique formte in Paris ein Sieger-Team. © IMAGO/Callis
Paris – Paris träumt wieder. Und das nicht wegen irgendeines Superstars, für die man am Eifelturm in der Vergangenheit gut und gerne mal mit Millionen um sich schmiss, sondern eines Mannes mit einem Hang zu Kontrollzwang. Luis Enrique hat es geschafft: Im allerersten Jahr nach dem Abgang von Kylian Mbappé steht PSG im Champions-League-Finale. Der Satz klingt auf den ersten Blick unlogisch. Ist er aber nicht. Ganz im Gegenteil.
Unmittelbar nach Mbappés Wechsel zu Real Madrid vergangenen Sommer hatte der Fußballlehrer aus Asturien Folgendes prophezeit: „Ohne Kylian werden wir besser sein.“ Luis Enrique sprach diesen Satz mit einem Lächeln aus, die Haupstadtpresse wähnte ihn wahnsinnig. PSG besser? Ohne die Tormaschine, den Posterboy des Pariser Prunkkaders? Es klang vermessen. Jetzt nicht mehr.
Denn PSG ist jetzt keine One-Man-Show mehr, sondern ein zuverlässiges Uhrwerk, in dem auch die kleinsten Rädchen ineinandergreifen. „In Kylian hatten wir einen Spieler, der im Angriff frei agieren musste. Jetzt kontrolliere ich alles“, erklärte Luis Enrique in seiner Doku mit einem Augenzwinkern. Und das tut er wirklich: Denn abgesehen von Trainingsinhalten, Ernährung, Videositzungen und sogar gelegentlichen Abendessen mit Spielern läuft nun auch wirklich jeder einzelne Kicker genau in die Richtung, die sein Trainer vorgibt. Das Resultat: Die Improvisation wich einem Plan. Totaler Fußball. Dank eines totalen Trainers.
Der vielleicht kühnste Kniff des Coachs: Ousmane Dembélé statt Mbappé als falsche Neun. Das einstige Problemkind von Borussia Dortmund ist aktuell Europas bester Torschütze im laufenden Jahr und wird sogar als Anwärter auf den Ballon d‘Or geführt. Der Ex-Frankfurter Kolo Muani wurde zu Juve geschickt, in Gonçalo Ramos blieb lediglich ein gelernter Stürmer, auf dem Platz bekam allerdings Dembélé das Vertrauen – und der Franzose ging in seiner neuen Rolle durch die Decke.
Doch nicht nur vorne wurde gebastelt, sondern in sämtlichen Mannschaftsteilen Talente zu echten Waffen gemacht: Warren Zaïre-Emery wich Désiré Doué, einem 19-jährigen Dribbelkünstler aus Rennes, in den sich Luis Enrique nach dem direkten Duell vergangene Saison verliebte. Für 60 Millionen kam der Teenager schließlich – und ist heute unverzichtbar.
Chwitscha Kwarazchelia war das Sahnehäubchen. Im Januar kam der Georgier für 70 Millionen Euro aus Neapel und verbreitet seitdem gemeinsam mit Dembélé Angst und Schrecken in der Pariser Offensivabteilung. Frag nach bei Kalibern wie Liverpool, Aston Villa oder Arsenal, die PSG auf dem Weg ins Münchner Finale am 31. Mai allesamt aus dem Wettbewerb schmiss.
Im Mittelfeld geben der Spanier Fabián Ruiz und der Portugiese Vitinha das Tempo vor, in der Abwehr sorgen der Ex-Frankfurter Willian Pacho, Routinier Marquinhos und Außenverteidiger Achraf Hakimi für Stabilität, Spieleröffnung sowie Stiche über die Flügel. PSG ist eine Mannschaft ohne Diven, aber mit viel Drama auf dem Rasen. In einem Jahr, in dem an der Seine alle den Verlust des vermeintlichen Pariser Messias betrauerten, erkannte Luis Enrique in der mutmaßlichen Schwächung eine potenzielle Stärke. „Hätte ich in der Folge auch im Training keine andere Mentalität, keine Aufbruchstimmung gesehen, wäre ich gegangen“, so der Ex-Spieler neulich in einem Interview mit dem TV-Sender Canal Plus. „Aber dieses Jahr war jedes Training auf Topniveau. Die Spieler waren außergewöhnlich.“
Und während Mbappé sich das Endspiel um den Henkelpott auf seiner Madrider Couch ansehen muss, steht sein Ex-Club ohne ihn im Finale – zum zweiten Mal in der Vereinsgeschichte. Dafür hat es nämlich keinen einzelnen Superstar gebraucht, sondern einen knurrigen, detailversessenen Spanier, der PSG mit einem Schlag von seinen Komplexen und seiner jahrelangen Starabhängigkeit befreit hat. Und in Fröttmaning nun vielleicht sogar zum größten Triumph der Clubhistorie führt.
JOSÉ CARLOS MENZEL LÓPEZ