Verfechter der alten Tugenden: Ex-Profi Maik Franz bangt um „eine Kernqualität des deutschen Fußballs“. © Imago (2)
Trendsetter: David Raum trägt kurze Schienbeinschoner.
Brutale Grätsche: James Tarkowski senst Liverpools Alexis MacAllister um. © IMAGO
München – Im schon immer emotionalen Merseyside-Derby zwischen Liverpool und Everton lief die 11. Minute, als die 90er auf einmal wieder voll da waren. Der Ball sprang Reds-Star Alexis MacAllister in die Füße, da flog James Tarkowski auch schon durch die Luft – und krachte horizontal in den Argentinier hinein und traf ihn mit voller Wucht an der Wade. Während diese Szene aus längst vergessen geglaubten Zeiten in den sozialen Medien für einen Aufschrei sorgte, beließ es der Schiedsrichter auf dem Platz – auch nach Eingriff des VAR und weil Tarkowski vorher den Ball spielte – bei einer Gelben Karte.
„Es war wirklich kein gutes Tackling von mir“, räumte Tarkowski später fair ein. „Als der Ball zwischen uns fiel, dachte ich, er (MacAllister/Red.) würde genauso reingehen, und ich habe mit einem 50:50-Zweikampf der alten Schule gerechnet. Aber er hat zurückgezogen – und ich eben voll durch.“ Tatsächlich steht der Zweikampf symbolisch für eine Entwicklung, die sich im Fußball seit Jahren abzeichnet. Es ist der schleichende Abschied einer einst gefeierten Tugend: Die Grätsche stirbt!
Ein Blick auf die Zahlen zeigt: Der klassische Zweikampf ist auf dem Rückzug – und damit auch die Grätsche als Stilmittel. Wurden in der Bundesliga in der Saison 2014/2015 noch durchschnittlich 7985 Zweikämpfe registriert, so ist der Wert über die Spielzeiten 2020/21 (7325) und 23/24 (6423) auf heuer 6291 Duelle eingebrochen. So wenige Duelle wie in der jetzt abgelaufenen Saison gab es noch nie.
Wo früher das Stadion tobte, wenn ein Verteidiger „Ball und Gegner“ säuberlich ins Aus beförderte, wird heute „verschoben“, „im Verbund gepresst“ oder „Passwege zugestellt“. Auch optisch springt einem die Entwicklung förmlich ins Gesicht: Unter den Stutzen der Stars sind klobige Schienbeinschoner längst Mini-Modellen gewichen. Spieler wie David Raum (RB Leipzig) oder Leverkusen-Star Florian Wirtz tragen sie im praktischen Tempo-Taschentuch-Format.
„Das Spiel ist zum einen taktischer geworden, zum anderen physischer“, erklärt Taktik-Experte Markus Brunnschneider vom Internationalen Fußballinstitut im Gespräch mit unserer Zeitung. Ballbesitz sei im Laufe der Zeit immer wichtiger geworden, werde als Erfolgsrezept verstanden. Ihn zu halten, erfordere mehr Passstationen und weniger Eins-gegen-eins-Situationen. „Mit einer Grätsche geht der Verteidiger das Risiko ein, bei Misslingen nicht mehr in das unmittelbare Spielgeschehen eingreifen zu können“, sagt er. Entsprechend spiele sie auch in der Ausbildung kaum noch eine Rolle.
„Schuld“ daran ist auch Ballbesitz-Fetischist Pep Guardiola. Mit dem FC Barcelona und seinem Tiki-Taka-Fußball trieb der Katalane ab 2008 ganz Europa in den Wahnsinn. Überall auf der Welt kopierten Fußballlehrer seinen Stil. „Dadurch stieg indirekt auch die Zahl der Teams, die gegen diese Art des Ballbesitzfußballs verteidigen müssen“, erklärt Brunnschneider. „Diese sollten im besten Fall die Zweikämpfe so führen, dass der Ball am Ende im Spiel bleibt und eine Umschaltaktion zustande kommt. Eine Grätsche, die den Ball ins Aus befördert, hilft dabei nicht.“
Die „neue Grätschkunst“ perfektioniert hatte Ex-Bayern-Star Philipp Lahm. Setzte der Weltmeister von 2014 zum Tiefflug an, rollte danach meistens der Konter der eigenen Mannschaft. Ball erobern, Angriff einleiten – und das alles in einer flüssigen Bewegung. Lahms Grätschen waren fast schon ein Kunstwerk.
Doch nicht nur die Taktik an sich, sondern auch die Athleten auf dem Platz haben sich verändert. Der Fußball erlebt ein Zeitalter der Supersprinter wie die Real-Stars Kylian Mbappé oder Vinicius Junior. „Schnelle Spieler mit Grätschen aufzuhalten, erweist sich als schwieriger, da auf Profiniveau im Mittel die technische Qualität ebenfalls steigt und der Ball noch an der Grätsche vorbei gelegt werden kann“, so Brunnschneider. Ex-Bundestrainer Jogi Löw ging schon bei der Weltmeisterschaft 2014 so weit, dass er ein generelles Grätschen-Verbot verhängte. Und selbst in Italien, dem Mutterland des Catenaccios, gab es einen prominenten Grätschen-Verweiger: Milan-Legende Paolo Maldini war für seine elegante Spielweise bekannt – selbst in höchster Not. „Wenn ich grätschen muss, habe ich schon längst einen Fehler gemacht“, sagte der Italiener einst.
Doch einer hält von alledem nichts. Maik Franz ist nicht bereit, in den Abgesang der Grätsche miteinzustimmen. „Ball und Gegner – das war meine Spezialität“, lacht der frühere Bundesliga-Profi (VfL Wolfsburg, Karlsruher SC, Hertha BSC) im Gespräch mit unserer Zeitung. Franz war einer, dem man auf dem Platz lieber aus dem Weg gegangen ist. Aufgrund seiner Spielweise verdiente sich der eisenharte Verteidiger den Spitznamen „Iron Mike“. In 192 Bundesligaspielen sammelte er 68 gelbe Karten und flog sechsmal vom Platz. Bayern-Star Thomas Müller bezeichnete ihn sogar mal als seinen härtesten Gegenspieler (Franz: „Das war wie ein Titel für mich!“).
Heute ist Franz im Nachwuchsbereich tätig, veranstaltet europaweit Camps mit der eleven teamsports Academy – und schlägt Alarm: „Wir müssen aufpassen, dass wir nicht eine Kernqualität des deutschen Fußballs verlieren: Unangenehm, präsent und kämpferisch sein – das war einmal unser Markenzeichen.“
Auch der 43-Jährige hat bemerkt, dass es auf dem Rasen immer weniger hart zur Sache geht. „Viele wollen nur noch Fußball spielen. Sie scheuen sich vor dem direkten Zweikampf.“ Natürlich entwickle sich das Spiel weiter, „aber warum ist denn Antonio Rüdiger so eine Rakete bei Real Madrid?“, fragt Franz und gibt die Antwort gleich selbst: „Weil er den puren Zweikampf lebt, der will den Gegner auffressen!“
Im Fußball sei eben nicht jeder Spieler gleich, jeder habe unterschiedliche Stärken. In der Abwehrkette brauche man zudem einen guten Mix. Zwischen Verteidigern, die gepflegt hinten raus spielen können, aber auch solchen, bei denen man direkt wisse, dass es auch „mal knallen kann“. Auch als Zeichen an den Gegner.
„Es geht nicht darum, den Gegenspieler dumm abzuräumen“, sagt Franz. „Doch manchmal musst du einfach auch zeigen: Heute passiert hier rein gar nichts für dich. Ich habe eine Grätsche oft sogar als psychologisches Mittel eingesetzt.“
James Tarkowski würde ihm wohl ohne Widerworte zustimmen.JOHANNES OHR