Die Unfallklinik ist sein Zuhause

von Redaktion

Eishockeyprofi Marco Niewollik hat sich mehrere Halswirbel gebrochen

Mit Förderlizenz beim EC Peiting am Puck. © IMAGO

Aufmunternder Gruß von den Kollegen der Augsburger Panther, wo er zum Kader gehörte. © Sportberichte/Adrian Goldberg

Besuch beim Heimatverein: Marco Niewollik bei Augsburg Düsseldorf. © dpa/Tom Weller

Murnau – Jeden Morgen blickt Marco Niewollik auf sein altes Leben zurück. In seinem Zimmer hängen vier Eishockey-Trikots in den Farben Grün und Rot. Neben dem Bett blitzt ein Schläger hervor, den seine Familie vorbeigebracht hat. Im ganzen Raum hängen Bilder und Zeichnungen von Kindern aus Augsburg, die davon träumen, Eishockey-Profi zu werden. So wie Marco Niewollik es war. „Mit dem Blick schlafe ich ein und wache ich auf“, sagt er. Aus dem Krankenzimmer ist „ein bisschen Heimat“ geworden, so formuliert es der 21-Jährige. Seit fünf Monaten ist die Unfallklinik in Murnau sein Zuhause. Sie wird es noch ein wenig länger sein.

Am Abend des 2. Februar brach Marco Niewollik sich mehrere Halswirbel. Es passierte im Oberligaspiel zwischen dem EC Peiting, dem Verein, für den er mit Förderlizenz spielte, und Bayreuth. Ein Check, ein Sturz, ein Aufprall. Der Augsburger weiß von all dem nichts mehr. Ihm wird schlecht, wenn er sich die Bilder ansieht. Er macht das nicht mehr. „Natürlich will ich das verdrängen“, sagt er. Aber manchmal schwappt die Szene einfach so hoch wie eine Welle, die nichts ahnende Strandgäste überwältigt. Mit einer Psychologin verarbeitet er das Geschehene. Gerade erst begreift er, „wie viele Schutzengel ich eigentlich hatte“. Marco Niewollik lebt. Das muss man sich immer wieder klar machen.

Gerade erst hat er seine dritte Operation hinter sich. Eine Schraube wurde entfernt, um einem Wirbel mehr Beweglichkeit zu schenken. Bald soll er seinen Kopf wieder neigen können. Ein großer Schritt, sagen die Ärzte. Sie sind zufrieden, alles lief gut. Doch Marco Niewollik, Spitzname „Niewo“, ist damit jetzt wieder ans Bett gekettet. Für ihn fühlt sich das gerade wie ein Satz zurück an den Anfang an. In den Wochen nach dem Unfall bewegte sich sein Körper kein bisschen. Als er den ersten Schritt setzte, gesichert von vier Leuten und einem Stützwagen, überwältigten ihn die Emotionen. „Ich konnte es nicht glauben, dass wir es versuchen“, sagt er. Nach einem Schritt schrie sein Körper vor Schmerzen, weil sich allein ein Tritt anfühlte wie ein Zehn-Kilometer-Sprint. Wasser schoss ihm in die Augen. Noch heute breitet sich ein Grinsen auf seinem Gesicht aus, wenn er von jenem Tag erzählt. „Das ist so ein unbeschreibliches Gefühl“, sagt Marco Niewollik.

Im März sah er sein Eisstadion, seine Teamkollegen, seine Freunde in Augsburg wieder. Gestützt auf einen Rollator. Vom Spiel des AEV, sagt er, habe er nicht viel mitbekommen. „Ich hatte viele Tränen in den Augen.“ Der Moment stärkte ihn für die vielen einsamen, dunklen Stunden in der Klinik. Alleine steht er trotzdem nicht da. Seine Eltern besuchten ihn monatelang täglich. Familie und Freunde, sagt Marco Niewollik, sind ihm besonders wichtig. Menschen aus ganz Deutschland, die er gar nicht kannte, schrieben ihm Nachrichten. Die deutsche Eishockey-Gemeinschaft ist eine große Familie. Sie lässt keinen zurück. Auch Mike Glemser meldete sich. Der Stuttgarter Profi durchlebte ähnliches, ist seit einem Check in der Oberliga – passiert am 3. Februar 2023 – querschnittsgelähmt. Die beiden, die ein Schicksal teilen, texten sich. „Nur er kann alles nachvollziehen. Das können auch Familie und Freunde nicht“, erklärt Marco Niewollik.

Sein Heimatverein, der Augsburger Eislaufverein, startete eine Spendenaktion. Auf der Internetseite „gofundme“ kann jeder dazu beitragen, dass Marco Niewollik wenigstens ohne finanzielle Sorgen nach Augsburg zurück kehren kann. Seine Wohnung gehört umgebaut, barrierefrei gestaltet, die Reha finanziert. In Echtzeit kann man zusehen, wie die Geldbeträge eintrudeln. Manchmal 500 Euro, manchmal 5 Euro, manchmal von Menschen, die ihren Klarnamen hinterlassen, manchmal von Anonymen. „Es ist nicht in Worte zu beschreiben, das ist Wahnsinn“, sagt Marco Niewollik. Demnächst dürften sie die 40000-Euro-Marke erreichen.

Die Summe spornt ihn an, noch härter zu arbeiten. Durch unzählige Sommer-Trainings hat er sich gequält. „Ich dachte schon immer, dass die hart sind. Aber das ist was ganz anderes.“ Marco Niewollik muss seinen Körper wieder herstellen. Wirbel für Wirbel, Knochen für Knochen, Muskel für Muskel. Wie er im Februar auf die Intensivstation eingeliefert wurde, gingen die Ärzte davon aus, dass er ein Jahr dort liegen muss und nie mehr aufs Eis kann. Er hat das nicht akzeptiert und zu kämpfen begonnen. Wie weit sich sein altes Ich zurückbringen lässt, vermag niemand zu sagen. „Die Zukunft ist offen, ich brauche zwei, drei Wege,“ sagt Marco Niewollik. In seinen Träumen wird er irgendwann wieder eine Eisfläche in Schlittschuhen betreten können. Er wird dafür alles versuchen. Der 21-Jährige sagt: „Ich habe mein ganzes Leben damit verbracht, mich hoch zu kämpfen. Diesen Kämpferinstinkt habe ich nicht verloren.“ ANDREAS MAYR

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