Wer Alexander Zverev am Dienstagabend im Erstrundenmatch von Wimbledon spielen sah, der wunderte sich. Deutschlands bester Tennisspieler wirkte verunsichert, orientierungslos, kraftlos – und nicht wie die Nummer drei der Welt auf der Jagd nach dem ersten Grand-Slam-Triumph. Die Erklärung dazu lieferte Zverev auf der anschließenden Pressekonferenz. Offen und schonungslos gab er einen Einblick in sein aktuell schwarzes Seelenleben. Zwar fiel der Begriff Depression nicht, aber seine generell „fehlende Lust am Leben“ und die abhandengekommene Motivation für seinen Sport – seine Arbeit – deuten stark darauf hin.
Man muss dem 28-Jährigen Respekt zollen für seine ehrlichen Worte. Zumal er in den vergangenen Jahren im Rampenlicht der Tennis-Bühne nicht nur positive Erfahrungen mit den Medien gemacht hat. Freilich nicht unverschuldet, denn für seine privat oft schwierige Situation ist Zverev selbst oder zumindest mitverantwortlich. Wer vom Scheinwerferlicht profitiert, kann eben auch seine Schattenseiten zu spüren bekommen. Und dennoch können sich wohl nur die Wenigsten, die nicht Teil des öffentlichen Lebens sind, gerade in Zverev hineinversetzen.
Das sportlich enttäuschende Abschneiden rückt in den Hintergrund. Auch die immer wiederkehrende Frage, ob der Hamburger nicht seine Umfeld-Komfortzone – der Vater ist der Trainer, der Bruder der Manager – verlassen müsste, hat im Moment nicht oberste Priorität. Interessant ist aber, dass der vermeintlich eingeschworene Zverev-Clan nichts von den Problemen seines Schützlings wusste. Bruder Mischa, einst von Papa Alexander senior mit damals noch härterer Hand bis in die Top 50 der Welt geführt, zeigte sich jedenfalls verwundert über die Aussagen.
Fest steht: Es muss sich einiges ändern. Ob das schon bis in vier Wochen in Toronto gelingen kann? Zverev hofft es. Aber Zweifel sind angebracht. Der Olympiasieger scheint auf einen Weg abgekommen zu sein, auf dem er nicht eben im nächsten Kreisverkehr wenden kann. Zverev hat das Lenkrad nicht einmal mehr fest im Griff und ebenso wenig den Tennisschläger. Aber mit Blick auf seine Karriereziele (die er immer noch erreichen möchte) braucht der Mann, der auf der Tour bereits 24 Titel (!) gewonnen hat, die Power, die Aggressivität und das Selbstvertrauen vergangener Tage. Sonst rasen Alcaraz, Sinner & Co. uneinholbar davon.MATHIAS.MUELLER@OVB.NET