ZUM TAGE

Aggressiv auf dem Rad, defensiv daneben

von Redaktion

Lipowitz schreibt Tour-Geschichte

Die große Bühne, das ist nicht Florian Lipowitz` Sache. Und doch wird er sich daran gewöhnen müssen, denn was der 24-Jährige in den vergangenen drei Wochen geleistet hat, hat Radsport-Deutschland erst dreimal erlebt. Andreas Klöden und Jan Ullrich hießen die bis dato letzten Deutschen auf dem Tour-de-France-Podest. Davor schaffte dieses Kunststück 1932 noch Kurt Stöpel. Der Berliner lag im Ziel nur drei Sekunden hinter dem Franzosen André Leducq. Ein Spektakel aus heutiger Sicht. Damals interessierte das niemand – deutsche Berichterstatter waren nicht angereist. Lipowitz hingegen muss viele Fragen beantworten. Der Ulmer weiß, dass er das Medienspiel mitspielen muss, doch es dürfte nur wenige geben, die emotionsloser vom „großen Traum“ berichten, der „in Erfüllung geht“. Sein Fahrstil aber steht diametral zu seiner Interviewführung. Lipowitz präsentiert sich furchtlos, angriffslustig und einmal sogar so waghalsig, dass es ihn fast den dritten Gesamtrang gekostet hätte.

Die Zweirad-Heroen vor knapp 100 Jahren fuhren Etappen von fast 400 Kilometern und ohne große Unterstützung (was Stöpel wegen sieben Reifenpannen an einem Tag das Gelbe Trikot kostete). Heute sind die Rahmenbedingungen perfektioniert und die Trainingswissenschaft ergötzt sich an Kleinstdetails. Lipowitz sind Wattwerte ziemlich egal – zumindest im Rennen. Der Junge fährt mit viel Herz und nicht nur mit Hirn. Eine Charaktereigenschaft, die man nicht trainieren kann und für die man ihn lieben muss. Und wer weiß, was möglich ist, wenn sich ein Team voll und ganz auf ihn konzentriert. Eigentlich war Primoz Roglic als Kapitän bei Red Bull Bora vorgesehen, doch die Situation entwickelte sich ähnlich wie 1997 zwischen „Prinz“ Jan Ullrich und „König“ Bjarne Riis.

Ullrich war damals 23, Lipowitz ist 24. Ullrich gewann bei seinem Tour-Debüt die Nachwuchswertung, genau wie Lipowitz in diesem Jahr. Vergleiche sind so naheliegend und dennoch nicht angebracht. Zumal sich die Jugendjahre völlig unterscheiden. Während Ullrich von klein auf Wettkämpfe fuhr, unterschrieb der Ex-Biathlet Lipowitz erst vor zwei Jahren einen Profivertrag. Sein erstes Rennen mit 19 Jahren endete mit zwei Stürzen, wenig Spaß und einem Telefonat mit seinen Eltern. Die überredeten ihn, der Sache zwei Jahre eine Chance zu geben. Fünf Jahre später kann man festhalten: Es hat sich gelohnt.MATHIAS.MUELLER@OVB.NET

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