Gefährliche Abhängigkeit

von Redaktion

Nagelsmann hat vorne nur Woltemade, der aus Transferturbulenzen kommt

Seinen neuen Club Newcastle verfolgte Woltemade am Wochenende mit seinen Eltern von der Tribüne. © dpa/Nigel French

Körperlich überragt er alle: Der „Six-feet-six-guy“ Woltemade beim Training der Nationalmannschaft. © dpa/Federico Gambarini

Herzogenaurach – Nick Woltemade lernt eine neue Klimazone kennen (Nordengland), neue Kulinarik, eine neue Liga, einen neuen Club, eine neue Kultur – und auch neue Maßeinheiten. Auf die veränderte Metrik hat er sich schnell umgestellt nach seinem Wechsel von Stuttgart nach Newcastle, er ist nun nicht mehr 1,98 Meter groß, sondern er ist ein „six feet six guy“, wie er sich den Fans an der künftigen Wirkungsstätte in einem Vereinsvideo vorstellt. Fuß und Inches, darum geht es im Angelsächsischen, ab „6‘3‘‘“ gilt man als großer Kerl, Woltemade liegt noch klar drüber. Er sei kein „typischer 6‘6‘‘ guy“, erklärt er denen, die seine Fans werden sollen, er liebe es, den Ball am Fuß zu haben, zu dribbeln, zu zocken.

Der 23-Jährige muss sich detailliert präsentieren, denn man weiß noch wenig über ihn. Die internationalen Eindrücke, die in der Premier League zählen, beschränken sich auf die U21-Europameisterschaft und das Final Four der Nations League, bei dem Woltemade sein Debüt für die deutsche Nationalmannschaft gegeben hat. In der Champions League hatte er 2024/25 nicht gespielt, weil der VfB Stuttgart ihn nicht gemeldet hatte. Woltemade war vor einem Jahr ein ablösefrei aus Bremen gekommenes Talent, man konnte die rasante Entwicklung in der Bundesliga-Rückrunde noch nicht erahnen. Als Julian Nagelsmann im März seinen Kader für das Viertelfinale der Nations League gegen Italien bekannt gab, verzichtete er explizit auf die Nominierung Woltemades, der gerade begonnen hatte, sich einzuschießen. Der Bundestrainer befand: „Für die Nationalmannschaft muss man über einen längeren Zeitraum treffen.“ Im Juni griff er dann aber auf den Sturmriesen zurück, ließ ihn im Halbfinale gegen Portugal debütieren und behielt ihn auch noch fürs Trostspiel um Platz drei gegen Frankreich, obwohl er dem U21-Kollegen Antonio di Salvo die schnelle Abstellung Woltemades zugesagt hatte.

Ein Tor gelang Nick Woltemade bei seinen ersten beiden Einsätzen in der A-Nationalmannschaft nicht, dennoch führt auf dem Weg zur Weltmeisterschaft schon mangels Alternativen an ihm kein Weg vorbei. Tim Kleindienst (Mönchengladbach), der im März noch deutscher Top-Stürmer gewesen war, wird bis in den späten Herbst hinein verletzt ausfallen. Kai Havertz (Arsenal) verpasste verletzt jedes Länderspiel 2025. Deniz Undav, ohnehin nicht vorgesehen für die ersten WM-Qualifikationsmatches in der Slowakei (Donnerstag) und gegen Nordirland (Sonntag), ist ebenfalls in den Krankenstand gewechselt, und der neben Woltemade berufene Volkstribun Niclas Füllkrug hat bei West Ham United zu kämpfen. Johnny Burkardt (Frankfurt) hat bisher nicht überzeugt beim DFB (Nagelsmann: Die Spiele, die er gemacht hat, waren nicht so, dass er zwingend mit muss“), und sonst gäbe es nur noch Nicolas Kühn (25), der vorige Saison mit Celtic Glasgow den Bayern in der Champions League zusetzte; ihn hat Nagelsmann auf dem Schirm, sieht allerdings auch, dass Kühn kaum spielt nach dem Wechsel zum italienischen Newcomer Como.

Überhaupt: Die eben abgelaufene Transferperiode erleichtert Nagelsmann die Arbeit nicht. Potenzielle Mitglieder eines 23 oder 26 Mann starken WM-Kaders haben sich ins Ausland verabschiedet, Leroy Sané (Galatasaray Istanbul) ist der prominenteste, aber auch einer wie Anton Stach ist nun weiter weg: Leeds statt Hoffenheim. Klar, um Florian Wirtz in Liverpool muss der Bundestrainer sich nicht sorgen, doch Woltemade ist dann bereits der erste Schlüsselspieler, bei dem schwer abzuschätzen ist, wie die nächsten Monate laufen werden. Ursprünglich wollte der Stürmer zum FC Bayern wechseln, Nagelsmann hätte das nicht so sehr gefallen. „Ich kann einen Wechsel nicht als superglücklich ansehen, wenn einer von 100 auf 15 Prozent Spielzeit zurückfällt.“ Zu Woltemade sagte er, „dass es mit 25 Prozent knapp wird für die WM“, er war froh, dass es nach Verbleib in Stuttgart aussah: „Das ist alles andere als verkehrt.“

Die Prozente schwirren Nagelsmann durch den Kopf. Bei dem von ihm geschätzten Bayern-Sechser Aleksandar Pavlovic notierte er aus der vergangenen Saison „33 Prozent – das ist zu wenig in diesem Alter“. Auch Malick Thiaw (24), Innenverteidiger mit Perspektive, erhielt keine Einladung. Er steht nach seinem Transfer vom AC Mailand zu Newcastle United bei drei Prozent Einsatzzeit. Oder wie Nagelsmann es sagt: „Er spielt nicht.“

Vielleicht gibt es Thiaw Auftrieb, in Newcastle Landsmann Woltemade an seiner Seite zu wissen. Der Neue aus Stuttgart, bei der Vertragsunterzeichnung bei United von seinen Eltern begleitet, geht jetzt erst mal auf die Jagd nach seinem ersten Länderspieltor. Und er nutzte die Zeit in Herzogenaurach, wo das DFB-Team sich seit Montag vorbereitet, um noch einen Instagram-Abschiedsgruß an die fluchtartig zurückgelassenen VfB-Fans aufzunehmen. „Ich will das Höchstmögliche erreichen. Ich spiele jetzt Champions League und in der besten Liga der Welt“, erklärte er den Schritt nach Newcastle, der vergangene Woche alle kalt erwischt hatte. Aber er ahnt, dass seine Botschaft nicht überall durchdringen wird: „Ich fordere gar nicht, dass man meinen Schritt nachvollziehen kann“GÜNTER KLEIN

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