Hinein ins Glück: Top-Schütze Andreas Obst. © IMAGO
Nimm das! Bonga mit Finnen-Star Markkanen. © IMAGO
Riga – Einen wie Rimas Kurtinaitis sollte man nicht leichtfertig als leidgeprüften Mann porträtieren. Daheim in Litauen residiert der frühere Olympiasieger und Europameister als lebendes Denkmal, hat gerade die Mission aufgetragen bekommen, sein Heimatland in eine neue Basketball-Ära zu überführen. Aber selbst er, der ehemals gefürchtetste Scharfschütze Europas, kniete hilflos vor diesem Mysterium, das sich deutsche Nationalmannschaft nennt. Er sollte erklären, warum sein Team nicht mehr als ein Snack dieses Monsters war, verschlungen in einem Happen. Der 65-Jährige holte aus, nicht oft in seinem Leben habe er ein Team 19 Dreier (EM-Rekord übrigens) treffen sehen wie die Deutschen gegen ihn. Und dann sprach er das Geheimnis dieses Teams aus: „Sie haben genau die richtigen Spieler für ihr System. Es sind lauter großartige Spieler.“
Das mag im ersten Moment nach den üblichen Artigkeiten des Geschäfts klingen, war aber dann doch auch ein Zugeständnis: Diese Deutschen präsentieren sich vor dem Achtelfinale am Samstag (14.15) gegen Portugal als eine unausweichliche Übermacht, weil sie nicht nur die Stars haben, sondern auch die passgenauen Edelhelfer. In ihren Clubs sind Männer wie Isaac Bonga, Bayern-Star Andi Obst, Johannes Thiemann, Daniel Theis oder Tristan da Silva zweifelsohne nützliche Einzelteile. Im Kontext der Nationalmannschaft sind sie zusammen geschraubt zu einem Super-Computer, der in beängstigender Präzision wie Geschwindigkeit Gegner und ihre Schwächen berechnen und angreifen kann. Jeder einzelne Spieler im Kader des Weltmeisters erfüllt den Zweck, die Stärken der Sternchen, Dennis Schröder und Franz Wagner, auf zu boostern – oder ihre Schwächen zu kaschieren. Sie sind ein eigenes, kleines Ökosystem, in dem jeder jeden bedingt.
Isaac Bonga, der Bodyguard, lässt sich selbst mit Vorliebe auf die Stars der Gegner los. Gegen Finnland, erzählte er stolz hinterher, wollte er NBA-Superman Lauri Markkanen unbedingt Albträume einhauchen mit seinen Abwehrkünsten. Der Nationalheld kam auf mickrige elf Zähler – das war’s Bongas Werk. Andreas Obst wiederum ist der Meister des Raums. Dank seiner grenzenlosen Reichweite laufen ihm die Gegenspieler hinterher, als versuchten sie einen ausgebüxten Hund einzufangen. In dieser Hatz tun sich Korridore für Wagner und Schröder auf. Die beiden versetzen jede Defensive in eine Zwangslage: Wer sich auf sie einschießt, ist wehrlos den Waffen der Anderen ausgeliefert. Freiräume an der Dreierlinie? Bestrafen Obst, Bonga, Maodo Lo und Tristan da Silva. In Lücken unter dem Korb? Dringen Thiemann und Theis ein.
Für jedes Rätsel, das die Gegnerschar den Deutschen aufzugeben versucht, haben sie mehrere Lösungswege. Über vier Jahre haben sie jedes Einzelteil entwickelt, getestet, umgedreht und nun zusammen gesetzt. Die Superkraft im Weltbasketball ist nicht mehr die Anzahl der NBA-Stars. Das haben gerade die Amerikaner bei den letzten Weltmeisterschaften mit leidvollen Niederlagen erfahren müssen. Wer es auf den Thron schaffen will, muss Jahre ins Zusammenspiel investieren. Die Spanier mit ihrem blinden Verständnis haben die Blaupause geschaffen, doch ihre Sternstunde ist verglüht. Sie schieden in der Vorrunde aus. Wobei aus solchen Tiefpunkten Neues gedeihen kann: Die WM-Schmach von 2019 war die Geburtsstunde der deutschen Helden von heute. Die Hälfte des aktuellen Kaders stand damals auf dem Feld. Deshalb sind die 2020er Jahre zum Zeitalter der Deutschen geworden, die nun nach EM-Gold greifen.ANDREAS MAYR