Um 0,03 Sekunden musste sich Amanal Petros nach 42,195 Kilometern lediglich Alphonce Simbu aus Tansania geschlagen geben. © Perenyi/Imago
Tokio – Marathonläufer Amanal Petros widmete den überraschenden Silber-Coup von Tokio einem Herzensmenschen. „Das ist für meine Mama“, sagte Petros mit leicht gebrochener Stimme. „Sie wird das jetzt nicht sehen, aber ich werde schon einige Videos schneiden und sie dann schicken, damit sie das schauen kann“, äußerte der 30-Jährige nach der knappsten Marathon-Entscheidung in der Historie von Weltmeisterschaften.
Während Petros mit seinem zweiten Platz bei der WM deutsche Leichtathletik-Geschichte schrieb, lebt seine Mutter in der von Krieg und Konflikten gebeutelten Region Tigray in Äthiopien rund 10 000 Kilometer Luftlinie entfernt von der japanischen Millionenmetropole. Laut Petros ist sie in einem Dorf ohne Strom und Internet.
„Für mich ist es eine riesengroße Geschichte, das zu erreichen – besonders für meine Familie, für meine Mama, die schon ewig in einem Kriegsgebiet lebt. Ich habe sie seit acht, neun Jahren nicht gesehen“, sagte Petros.
Der Ausdauersportler war 2012 aus Äthiopien nach Deutschland geflüchtet. Seine Mama wusste nichts davon. „Ich habe ihr nichts erzählt“, sagte der EM-Vierte von München 2022. Erst als er in Deutschland angekommen war, erfuhr sie von der Flucht. „Diese Medaille ist für mich eine riesengroße Integration als Deutscher“, betonte Petros.
Es sei sein großes Ziel, seine Mutter „mal irgendwann nach Deutschland einzuladen“ zu einem Marathon. „Um einfach mal zu zeigen, wie ich so laufe.“
Petros kann seiner Mama dann auch stolz die Silbermedaille aus Tokio präsentieren, die er nach einem famosen Rennen mit einem atemberaubenden Foto-Finish geholt hat. Um einen Wimpernschlag und sage und schreibe nur 0,03 Sekunden musste er sich nach 42,195 Kilometern lediglich Alphonce Simbu aus Tansania geschlagen geben. Bronze am dritten WM-Tag bei erneut extrem schwülen Bedingungen holte der Italiener Iliass Aouani.
Petros absolvierte die prestigeträchtige Strecke in Tokio in 2:09:48 Stunden und machte von Beginn an in der Spitzengruppe ein starkes Rennen. Auf Tempoverschärfungen konnte der einstige deutsche Rekordhalter stets antworten.
Als er zusammen mit Simbu und Aouani zum Schlussspurt in das Nationalstadion von Tokio einbog, griff Petros an. Bis wenige Meter vor dem Ziel sah der EM-Dritte im Halbmarathon sogar wie der Sieger aus. Doch auf den letzten Metern zog Simbu noch vorbei an dem Deutschen, der sich mit letzter Kraft über die Ziellinie schmiss.
Petros sagte, dass er auch „traurig“ über die verpasste Goldmedaille sei, doch am Ende überwog die Freude über den mit Abstand größten Erfolg seiner Karriere. Ein paar Gläser Rotwein gab es: „Jetzt bin ich kein Läufer mehr, sondern jetzt bin ich Säufer“, grinste Petros.
Vollkommen überwältigt war Marathon-Bundestrainer Alexander Fromm. „Amanal hat Geschichte geschrieben“, sagte Fromm, der Freudentränen in den Augen hatte, in der ARD. „Einfach überragend.“
Petros gewann erst die zweite deutsche Marathon-Medaille bei den Männern in der Geschichte von Leichtathletik-Weltmeisterschaften. 1983 sicherte sich der zweimalige Olympiasieger Waldemar Cierpinski für die DDR Bronze. Der 75-Jährige hätte Petros Gold gewünscht. „Das ist großartig für Deutschland, dass er so einen tollen Lauf gemacht hat. Das hatten wir uns ja seit vielen Jahren gewünscht, dass einer so weit vorn mitmischt“, sagte Cierpinski.
„Ich träume jetzt gerade. Es war wirklich eine sehr, sehr lange Reise. Endlich habe ich es geschafft. Ich habe vier Monate lang auf 2.500 Metern Höhe in Kenia trainiert. Das war für mich keine leichte Zeit, das war brutal“, sagte Petros.DPA