Noch einmal 28 sein

von Redaktion

Julian Nagelsmanns Rückkehr zu den Wurzeln: Ist er da, wo er sein wollte?

Modisches Signal: der rote Mantel. © Iamgo/M.i.S.

Julian Nagelsmann 2016: Ein junger Trainer, der die Bundesliga aufmischt. © dpa/Carmen Jaspersen

Nagelsmann 2025: Ein Bundestrainer, an dem man sich gewöhnt hat. © dpa/Federico Gambarini

Sinsheim – Gegen Luxemburg heute (20.45 Uhr, ARD) in Hoffenheim alias Sinsheim und im November das, so hofft man beim DFB, Endspiel gegen die Slowakei in Leipzig – die WM-Qualifikationsrunde der deutschen Nationalmannschaft ist so designt, als solle sie den Karriereweg von Julian Nagelsmann abbilden: Einstieg in den Profibereich 2016 bei der TSG Hoffenheim als mit 28 jüngster Trainer der Bundesgeschichte, der nächste Schritt dann bei RB Leipzig. Nun bespielt er beide früheren Wirkungsstätten als Bundestrainer. Ein solches Durchstarten aus der Anonymität des Jugendfußballs ins höchste Amt und in so jungen Jahren hat es noch nicht gegeben – doch diese Quali-Tour gerät vielleicht gar nicht zur gedachten Würdigung, sondern befördert die Zweifel: Hat Julian Nagelsmann sich verlaufen, verändert, vertan?

Die Geschichte begann am 27. Oktober 2015, also vor ziemlich genau zehn Jahren. Die TSG 1899 Hoffenheim vermeldete, dass zum 1. Juli 2016 Julian Nagelsmann, bislang Trainer der U19, der nächste Coach der Bundesliga-Mannschaft sein würde. Bis zum Amtsantritt werde er die nötige Lizenz erworben haben. Nagelsmann? Nie gehört. Erste Informationen lauteten: Stammt aus Landsberg, spielte in den zweiten Mannschaften von 1860 München und FC Augsburg, kann wohl gut mit anderen jungen Leuten umgehen: ein Talenteflüsterer. Hoffenheim rechnete insgeheim mit dem Abstieg in die 2. Liga, es lief nicht gut unter dem Trainer Huub Stevens, dem „Knurrer von Kerkrade“, der sich sogar mit der kreuzbraven Presse der Rhein-Neckar-Region angelegt hatte. Im Februar 2016 warf Stevens hin, er verwies auf Herzrhythmusstörungen. Nagelsmann übernahm mit seinen 28 Jahren und mitten im DFB-Lehrgang stehend, sofort.

Mit ihm erlebte Deutschland etwas Neues: Ein Trainer, der jünger war als viele seiner Spieler. Im Bericht zu seinem Einstand, einem 1:1 bei Werder Bremen, nannte ihn der Kommentator der ARD-Sportschau penetrant „der Julian“, als rede man von einem Kind, das sich im Ikea-Bällebad verloren hatte. Der neue Trainer war, so fand man schnell heraus, ein Hybrid-Modell: Auf der einen Seite einer aus der Laptop-Generation, er ließ in seinen ersten fünf Partien fünf Systeme spielen, Dreier- wie Viererkette, ein Stürmer, zwei Stürmer, drei Stürmer – zugleich stärkte er die Mannschaft auf mentaler Ebene. Es lief, Hoffenheim löste sich aus der Abstiegszone, in den Redaktionen wurde die „Nagelsmann-Tabelle“ geführt – als hätte die Saison mit dem Einstieg des Jungtrainers erst begonnen.

Interviews gab er noch keine, er sollte sich auf seinen Trainerlehrgang konzentrieren, da war die TSG wie der gestrenge Vater, der zum Sohn sagte: „Mach du erst deine Schule fertig.“ Julian Nagelsmann hatte aber schon die Angewohnheit, vom Podium herunterzuwitzeln, der Bild-Zeitung griffige Schlagzeilen vorzuschlagen und mal einen Spruch rauszuhauen. Wie: Verändert habe sich sein Leben insofern, als er nicht mehr unbeschwert ins Freizeitbad gehe, denn nun sei er ja bekannt und in Badehose ein Fotomotiv.

Wer Näheres wissen wollte über ihn, musste frühere Mitspieler des FC Issing aus der A-Klasse Zugspitzkreis ausfindig machen. Sie erzählten gerne über ihn: Vor Nagelsmann sei Marcel Schrötter, der Motorrad-WM-Fahrer, der bekannteste Spieler des Teams gewesen, Nagelsmann halte immer noch Kontakt zu allen, trage den Spitznamen „Baby-Mourinho“, sei das aber quasi in nett. Und das bestätigte Julian Nagelsmann zunächst in der Bundesliga: Den Vierten Offiziellen begegnete er mit Höflichkeit, zeigte keine Spur von Aggressivität. Die kam aber mit den Erfolgen und dem Selbstvertrauen. Als Hoffenheim im August 2017 gegen den FC Liverpool um einen Platz in der Champions League spielte, da kam es schon zu einem Gekeife mit Jürgen Klopp. Das Establishment tat sich anfangs schwer mit ihm. Auf die Trainer alter Schule wirkte er wie ein Punk, der auf Sylt das Ortsbild beeinträchtigt.

Es war klar, dass ein solch offensichtliches Trainertalent nicht lange bei der TSG Hoffenheim bleiben würde. Irgendwann werde er einer für die Bayern sein, sagte man, und er beförderte die Gerüchte, wenn er mit rotem Mantel ein Spiel in der Allianz Arena anschaute. Die Bayern kamen. Früh. Mit 34 wurde er Trainer des Serienmeisters, der 25 Millionen Ablöse an Leipzig zahlte, wo er in zwei Jahren nicht besser abgeschnitten hatte als seine Vorgänger. Die Entlassung im März 2023 knickte Nagelsmanns Karriere nicht. Die Geschehnisse beim DFB, der plötzliche Bedarf nach einem Nachfolger für den gescheiterten Hansi Flick im September `23 brachten ihn in ein Amt, das in einer deutschen Trainerlaufbahn erst in höheren Lebensjahren oder mit einem DFB-internen Werdegang vorgesehen ist: Bundestrainer.

Oliver Baumann, der der Hoffenheim-Torwart war, als 2016 Nagelsmann die TSG-Truppe übernahm, sagt, dass er nicht gedacht hatte, es damals mit einem baldigen Bundestrainer zu tun zu haben. „Aber es hat mich für ihn gefreut. Denn vom Wesen her hat er sich nicht verändert, ihm ist nichts zu Kopf gestiegen.“ Nadiem Amiri hat ebenfalls unter ihm in Hoffenheim gespielt und findet: „Er ist immer noch derselbe – und in allem gut.“

Was sich verändert hat, ist das öffentliche Bild von Julian Nagelsmann. Er hat sich mehr Tiefe gegeben, als er dem Spiegel vom Suizid seines geheimdienstlich tätigen Vaters erzählte. Von der EM 2024 blieben seine staatstragenden Appelle an gesellschaftlichen Zusammenhalt und sein Lobpreis auf die Vereinskultur („Sportverein, Trachtenverein, Burschenverein, Freiwillige Feuerwehr“) in Erinnerung. Auch in der Sky-Dokumentation über Sportdirektor Rudi Völler sagt er kluge Sätze.

Und doch ist die Begeisterung verflogen über Nagelsmann und seine Interpretation der Bundestrainerrolle. Anlass zur Kritik geben seine verhaltene Präsenz in den Stadien (er bevorzugt die Übertragungen zuhause, oft zwei parallel) und dass er die sommerliche Club-WM nicht zum Anlass für eine Inspektionstour ins WM-Land USA nahm. Seine Nominierungspolitik hat die Linie verloren, Spieler werden erst aussortiert, dann nachnominiert. Seine forsche Weltmeisteransage für 2026 musste er halb einfangen, weil es auf einmal unsicher erscheint, dass man sich überhaupt qualifiziert.

Nagelsmann ist jetzt 38, weit gekommen – aber vielleicht nicht dorthin, wo er wollte. Kann er am Freitagabend in Sinsheim noch einmal 28 sein?GÜNTER KLEIN

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