Ein Detail mit großer Wirkung: Beim Schuss richtet Harry Kane den Blick immer auf den Ball. © IMAGO
München – Johan Cruyff war der Star der Fußball-WM 1974 in Deutschland. Das Resultat einer für ihn glücklichen Fügung. Denn eigentlich hätte Belgien sich für das Turnier qualifizieren müssen. Im entscheidenden Spiel 1973 erzielten die Belgier in der 89. Minute das 1:0 gegen die Niederlande, der Schiedsrichter kassierte es ein, ungerechtfertigt, wie die Fernsehbilder zeigten. Durch das 0:0 fuhr Oranje zur WM, Hollands „König Johan“ wurde zur Attraktion. Erst diese Bühne ermöglichte seine große internationale Karriere.
Oder ein anderes Beispiel dafür, wie sehr der Fußball von Zufälligkeiten abhängt: Vor der WM 2022 hatten die Analysten des DFB die Wahrscheinlichkeit auf ein Vorrunden-Aus in der Gruppe mit Japan, Spanien und Costa Rica auf 20 Prozent veranschlagt, unter Berücksichtigung aller Daten aus den drei Spielen sank die Gefahr des deutschen Scheiterns auf 2,7 Prozent – und doch: Es wurde zur Realität. Christoph Biermann nennt, was der DFB-Vertretung in Katar widerfuhr, „eine Laune des Schicksals“.
Der renommierte Autor Biermann ist in einigen Büchern schon tief eingetaucht in den den oft unergründlichen Fußball, in dem immer wissenschaftlicher, mathematischer, präziser gearbeitet wird. Sein neues Werk heißt provokativ „Die Tabelle lügt immer“ (Kiepenheuer & Witsch, 18 Euro), es setzt sich auseinander mit der Macht des Zufalls. Er zerstört die Kontrollillusion der Trainer. Diese meiden den Begriff Zufall, lieber sprechen sie von „Standardabweichung“.
Schon älteren Datums ist die Untersuchung, wonach Fußball viel zufallsanfälliger ist als andere Ball- und Mannschaftssportarten. Konkret: Bei 46 Prozent aller Tore ist ein Zufallsereignis im Spiel, bei der Hälfte davon kommt die Vorlage zum Tor von der verteidigenden Mannschaft. Der Fußball kann punktuell also völlig unberechenbar sein.
Biermann zitiert den englischen Mathematiker Roy Fox, der vor ein paar Jahren eine virtuelle Liga mit 20 gleichstarken Teams konstruierte und unter ihnen 10000 Spielzeiten simulierte. Im Schnitt kamen alle 20 auf die annähernd gleiche Punktzahl, doch in den einzelnen Saisons lagen die Unterschiede zwischen Erstem und Letztem bei bis zu 30 Punkten. Immer wieder gibt es statistische Ausreißer – doch danach die Regression zur Mitte. Spektakuläre Abweichungen waren etwa die englische Meisterschaft 2016 von Leicester oder die zwölf Tore in den ersten zwölf Spielen für Borussia Dortmund von Stürmer Paco Alcacer. Sowie: Leverkusens Meistersaison 2023/24 mit der Besonderheit, dass 18 Tore nach der 90. Minute erzielt wurden.
Der Fußball versucht, dem Zufall den Garaus zu machen. Die Rechenmodelle gehen immer stärker ins Detail, es gibt längst nicht mehr nur die in jeder Fernsehübertragung erwähnten Expected Goals, sondern auch „Post Shot Expected Goals“, „Non-Shot Expected Goals“ oder einen „Expected Threat“. Trainer errechnen, wie viele Prozent der Schüsse im Strafraum abgegeben werden sollten, um den bestmöglichen Ertrag zu erzielen. Und mit wie vielen Spielern sollte man den Sechzehner besetzen, um die beste Torchance zu haben? Clubs suchen sich Marginalien heraus, in denen sie besser werden können, manchmal kommt es sogar zu erstaunlichen Ergebnissen. Bei Union Berlin konnte Stürmer Taiwo Awoniyi seine Quote an Toren pro 90 Minuten verdoppeln, nachdem der damalige Trainer Urs Fischer ihn in einem Punkt korrigiert hatte. Wenn Awoniyi schoss, richtete er den Blick auf den Torhüter. Fischer wies ihn an, beim Abschluss auf den Ball zu schauen. Wer das nämlich genauso macht: Harry Kane, Robert Lewandowski, Cristiano Ronaldo, Lionel Messi.
„Der Zufall steht unter Druck“, schreibt Christoph Biermann. Der VAR, der den Schiedsrichter als Fehlerquelle ausschaltet, ist sein Gegner – und auch das große Geld. „Diejenigen, die in den Fußball investiert haben, haben einen Weg gefunden, sich dem Fußball ein gutes Stück weit zu entziehen.“ Man möge schauen auf die Ligen, die beherrscht werden von Serienmeistern. Schlussfolgerung des Autors: „Fußball ist ein ewiges Ringen mit dem Zufall, das wir aber nie gewinnen dürfen. Denn dann hätte das Spiel seinen Zauber verloren.“GÜNTER KLEIN