Tobias Reiter implementiert neue Abläufe. © Koenig/Imago
München/Östersund – Beim Obstbaumschneiden im Garten seiner Eltern traf Tobias Reiter die Entscheidung für seine Rückkehr als Trainer in den Weltcup-Zirkus. Diesmal allerdings als Verantwortlicher für das Herren-Team. Zuvor prägte er unter anderem die erfolgreiche Dahlmeier-Ära zwischen 2014 und 2018 als Co-Trainer der Frauen und betreute zuletzt die Herren im zweitklassigen IBU-Cup. Eine große Eingewöhnungszeit mit der aktuellen Weltcup-Truppe bedurfte es nicht, nachdem Uros Velepec nach der WM Anfang des Jahres überraschend hingeworfen hatte und Reiter als sein Nachfolger verkündet worden war. Denn die meisten seiner Schützlinge haben bereits seine Schule durchlaufen.
Doch als er für den Saisonendspurt zum Team stieß, erkannte er sie irgendwie nicht so recht wieder. „Die Jungs haben sich mehr über andere Nationen unterhalten, wie gut die sind. Da war ich schon überrascht. Das war ja auch eine WM-Medaillengewinner-Mannschaft und trotzdem war da kaum Selbstvertrauen zu spüren“, sagt der 40-Jährige zu seinen ersten Eindrücken als Cheftrainer.
Es ginge ihm darum, eine „eigene Identität, eine eigene Philosophie“ zu entwickeln. So zog Reiter Philipp Nawrath, Justus Strelow und Co. in die Verantwortung und ließ sie ihre eigenen Trainingspläne erstellen, die er mit seinem Trainerteam gegebenenfalls etwas anpasste. Dadurch, dass im Verbund Einheiten und Umfänge erarbeitet wurde, merke man den Athleten an, dass „noch mehr Überzeugung drinsteckt“, sagt Reiter unserer Zeitung.
Es war der erste Ansatz, mit dem er Biathlon-Deutschland langfristig wieder an die enteilten Top-Nationen heranführen will. Zudem hat der „Konzepttrainer“, wie ihn Sportdirektor Felix Bitterling einmal nannte, eine komplette Neuerung ins Leben gerufen: einen einheitliche Belastungs- und Erholungsrhythmus vom Weltcup-Kader bis hin zur Jugendmannschaft. „So wissen alle, wo sie gerade stehen im Vergleich zu einem Topathleten – ob am Schießstand, in Kraftfähigkeiten oder bei den Intervallmethoden“, begründet Reiter diese Maßnahme. Dadurch entstand ein „super Austausch“ auch unter den Trainerkollegen.
Freude bereitete ihm auch, dass vor allem die Jüngeren den Älteren in den gemeinsamen Trainingslagern „ordentlich Feuer“ gemacht haben. Perspektivisch soll dieses Konzept die Männer konstant wieder nach vorne bringen – unabhängig ob Reiter auch nach Olympia weiter die Mannschaft betreut. „Ich habe das jetzt implementiert, aber das kann jeder entsprechend weiterführen, weil die Strukturen schon geschaffen wurden“, erklärt der Chefcoach.
Beim Saisonauftakt in Östersund, der mit den Staffelrennen am Samstag (Frauen, 13.15 Uhr; Männer, 16.55 Uhr/beides ARD) beginnt, setzt Reiter aber auf altbekannte Gesichter. Und hier will er mit seinem Aufgebot trotz perspektivischem Aufbau, Top-Ergebnisse erzielen. „Unsere eigene Erwartungshaltung, auch von den Athleten selbst, ist mindestens genauso hoch, wie von allen außen rum“, sagt der 40-Jährige, der Treppchenplätze mit den Staffeln und regelmäßige Top-6-Platzierungen bei den Einzelstarts als Ziele ausruft.
Nun steht aber auch der Trainer mehr im Fokus. Im IBU-Cup arbeitete er noch recht abgeschirmt vom großen Publikum. Seine Offenheit, Lockerheit und den Spaß am Sport will Reiter nun auch mit ins Weltcupteam bringen: „Weil das ist letztendlich das, mit dem jeder Athlet als Kind begonnen hat.“ALEXANDER VORMSTEIN