Aufgeblasener Airbag: der Franzose Nils Allegre nach einem Sturz. © Pestelacci/Imago
Der Italiener Matteo Franzoso verstarb im September. © Steiner/Imago
Karlheinz Waibel, beim DSV zuständig für Technik und Sicherheit. © Imago
Folgenschwerer Einschlag: Aamodt Kilde bei seinem Sturz am Lauberhorn. © Mandl/Imago
München – Bis 2014 war Karlheinz „Charly“ Waibel Chefcoach der deutschen Ski-Männer. Danach wurde er Bundestrainer Wissenschaft und Technik und setzt sich seitdem für Sicherheit im Skisport ein. Vom Weltverbands FIS ist er oft enttäuscht, auch mit Blick die eingeführte Airbag-Pflicht (in den schnellen Disziplinen) und das Verbot von Schienbein-Carbon-Einlagen. Auch zum Todesfall des im September im Training verunglückten Italieners Matteo Franzoso hat Waibel eine klare Meinung.
Herr Waibel, Sicherheit im Skisport: Lockt Sie das Thema noch oder stumpft man über die Jahre ab?
Im Gegenteil. Die Sicherheit zu erhöhen ist nicht nur mir, sondern allen Beteiligten ein großes Anliegen. Das, was wir jedoch gerade erleben, löst die Problemstellung nicht, dafür aber teilweise Unsicherheit und Ängste aus.
Was genau meinen Sie?
Das Bizarre ist: Wir, also die Skiszene, verzerren das Bild zum Teil selbst und schrecken damit ab. Unser mit Abstand größtes Problem sind Knieverletzungen. Aber die großen Diskussionen werden über Einzelfälle und prominente Sportler geführt. So tragisch der Sturz des Norwegers Aleksander Aamodt Kilde (Wade aufgeschlitzt) am Lauberhorn war – Schnittverletzungen sind nicht das primäre Problem. Auch der Todesfall des Italieners Matteo Franzoso in Chile ist extrem tragisch und wir müssen unbedingt analysieren, welche Umstände zu dem Unfall geführt haben und daraus lernen, wie sich solche Unfälle in Zukunft verhindern lassen. Jedoch sollte so ein tragischer Fall nicht den Abfahrtssport generell infrage stellen. Im Skigebiet La Parva wird seit vielen, vielen Jahren trainiert. Einen Unfall dieses Ausmaßes hat es bisher dort noch nie gegeben, offensichtlich ist die Strecke also relativ sicher.
Lässt sich so ein Unfall wie der von Franzoso vermeiden? Oder ist das, so hart es klingt, vielleicht Schicksal?
Interessanterweise wurde der betreffende Streckenabschnitt von den Athleten ganz unterschiedlich bewertet. Die Passage wird mit ziemlicher Sicherheit so nicht mehr gefahren oder wenn sie gefahren wird, noch besser abgesichert werden. Leider muss oft erst etwas passieren, um einen Risikofaktor zu erkennen, der bisher nicht als solcher eingestuft wurde. Bei Silvano Beltrametti 2001 in Val d`Isere war es ähnlich. Er durchbrach das A-Netz, kam auf einen Felsen auf und brach sich den sechsten und siebten Brustwirbel. Seitdem hängen dort zwei A-Netze hintereinander. Die Krux damals: Wäre Beltrametti aus der Kurve kommend – wie bei den Vorkehrungen erwartet – aus spitzem Winkel in das Netz gestürzt, hätte es gehalten. Er prallte aber aus einem 90-Grad-Winkel darauf, das hatte niemand so vorhergesehen.
Könnte man in La Parva nicht eine feste Trainingsstrecke aufbauen?
Das Skigebiet wurde nicht als Trainingsgebiet geschaffen. Es wird von vermögenden Chilenen als deren Spielwiese und zu touristischen Zwecken betrieben. Den Teams wird die Möglichkeit eingeräumt, vormittags zu trainieren, bevor der Publikumsverkehr einsetzt. Es ist also kein „Business Case“ für den Rennsport, wie beispielsweise die Strecke in Copper Mountain (USA). Diese ist maximal abgesichert, wird beschneit und die Teams zahlen für die Nutzung eine hohe Gebühr.
Aber wäre es theoretisch möglich?
Aktuell nicht. Im oberen Teil gibt es keine Möglichkeit, Kunstschnee zu produzieren. Wir haben die Besitzer vor Jahren schon gefragt, ob man die Beschneiung erweitern könnte. Aber da war kein Interesse. Zumal es dort auch nicht genug Wasser gibt, um die komplette Abfahrt zu beschneien. Und wenn der Schnee fehlt, können die Netze nicht vernünftig verankert werden. Dann hängen die plötzlich im Nichts. Ich persönlich halte die Piste auch so für durchaus trainingstauglich – dass immer etwas passieren kann, liegt nicht zuletzt daran, dass wir eine Risikosportart betreiben. Wie schon gesagt: Wir müssen die richtigen Schlüsse für die Zukunft ziehen.
Es gibt Zusatzschutzmaßnahmen wie Knie-Orthesen, schnittfeste Unterwäsche und den Airbag. Was hilft?
Es gibt noch wenig Erfahrungswerte mit der schnittfesten Unterwäsche, aber wir gehen davon aus, dass Kildes Sturz in Wengen wesentlich glimpflicher ausgegangen wäre, weil schwere Schnittverletzungen damit nicht mehr möglich sind.
Der Airbag?
Wir haben, Gott sei Dank, sehr selten schwere Wirbelsäulenverletzungen, unter anderem auch, weil eigentlich alle Athleten einen Rückenprotektor tragen. Der interessanterweise nie obligatorisch war. Zum Airbag gab es eine Arbeitsgruppe der FIS, der auch ich angehörte. Wir sind zur damaligen Zeit zur Einschätzung gekommen, die Verwendung des Airbags nicht verpflichtend vorzuschreiben, wurden aber unter Druck gesetzt, dem Vorschlag zuzustimmen.
Wieso?
Was soll der Airbag zusätzlich schützen? Eine Oberkörperprellung? Die ist unschön, aber doch nicht das Problem des Skirennsports. Zudem gab es damals nur einen Hersteller, der ausreichend Erfahrung im alpinen Skirennsport hatte. Mögliche Fehlauslösungen durch den Algorithmus und die offene Frage, ob durch den zusätzlichen Abstand, der beim Aufblasen am Rücken entsteht, bei Überstreckung des Kopfes eine neue Gefahrenquelle auftaucht, waren unter anderem Argumente für unsere Einschätzung. Eine Antwort auf unsere Fragen haben wir vom Hersteller nie bekommen.
Dafür eine Wirbelsäulenverletzung eines österreichischen und eines deutschen Athleten – trotz des Airbags.
Bis dahin waren alle unsere Athleten vom Nutzen überzeugt, danach wollte ihn keiner mehr tragen. Kurios war auch, dass in diesem Zusammenhang mit Zahlen einer Statistik gearbeitet wurde, die im Auftrag der FIS seit 2006 die Verletzungssituation im alpinen Skirennsport darstellt. Seit 2006 hätte es laut der Statistik X-Rückenverletzungen gegeben, die der Airbag verhindern hätte können. Dabei stammten die Zahlen zum größten Teil aus einer Zeit, in der man glaubte, mit einer Radiusveränderung am Ski die schweren Knieverletzungen verhindern zu können. Ein dabei nicht bedachter Nebeneffekt war eine deutliche Überlastung im Bereich des unteren Rückens. Der größte Teil der Zahlen aus der Statistik ließ sich also allein dadurch erklären.
Was passierte mit der Arbeitsgruppe?
Sie wurde aufgelöst. Dabei haben wir die Entwicklung und Einführung des Airbags ausdrücklich befürwortet. Nur für eine verpflichtende Einführung lagen unserer Meinung nach keine ausreichenden Argumente vor.
Kann man das Knie besser schützen?
Es gibt nicht den einen Hebel, zumindest keinen, den ich kenne. Alle bisherigen Versuche haben bestenfalls die Verletzungsmechanismen verschoben, aber nicht die Anzahl an Verletzungen reduziert. Am Schluss agieren die Fahrer immer am Limit, das ist das Wesen des Rennsports. Und da wirken nun mal hohe Kräfte auf den Körper.
Bleiben die Carbon-Einlagen für die Unterschenkel, die nun verboten sind. Zu Recht?
Es wird gerne so dargestellt, als hätte Cyprien Sarazzin nur Kitzbühel gewonnen, weil er diese Schoner fährt. Marco Odermatt fährt sie auch, gewinnt den Gesamtweltcup und damit ist die leistungssteigernde Wirkung der Carbon-Einlagen scheinbar belegt! Das ist zu einfach gedacht. Leider hinterfragt niemand, die Gesamtzusammenhänge dieser Maßnahme.
Was ist der Grund?
Odermatt hat sie wohl benutzt, weil er – wie beispielsweise früher Fritz Dopfer im DSV-Team – extrem empfindliche Stellen im Bereich des vorderen Schienbeins hat. Weicher Schaum allein hilft da nicht. Man muss die Stelle mit hartem Material überdecken, um den Druck nach oben und zur Seite abzulenken. In der aufgeheizten Diskussion hat die FIS jetzt eine neue Regel erlassen, die das Problem am Ende nicht lösen wird.
Wäre die aufgelöste Expertengruppe nicht genau für solche Fragen passend gewesen?
Definitiv. Solche Themen gehören unter verschiedenen Blickwinkeln betrachtet. Das war durch die damalige personelle Besetzung abgebildet. Aber wir waren wohl unangenehm und nicht immer auf FIS-Linie. Stattdessen wurde die Athlete Health Unit geschaffen. Das sind zwei Physiotherapeuten und Sportwissenschaftler, die nun die großen Gesamtzusammenhänge im Rennsportzirkus alleine überblicken sollen. Bestes Beispiel sind die immer wieder zitierten Messungen zu den Carbon-Schonern. Die Herangehensweise war bemerkenswert.
Warum?
Die Messungen fanden bei Raumtemperatur statt. Dabei hat der Kunststoff, der bei Skischuhen verbaut wird, thermoplastische Eigenschaften, das bedeutet, er verändert sich je nach Temperatur. Es muss kalt sein, damit er steif wird. Darum graben die Fahrer sich bzw. ihr Skischuhe oft im Schnee ein, wenn die Sonne stark scheint. Wenn man also in einen weichen Schuh eine harte Carbon-Schiene steckt, wird damit das Gesamtsystem logischerweise deutlich versteift. Aber diese Ergebnisse spiegeln nicht die Praxis wider.
INTERVIEW: MATHIAS MÜLLER