Dass der ARD-„Tatort“ über den jeweiligen Fall hinaus die Gesellschaft spiegeln und aktuelle Probleme und Konflikte nachbuchstabieren soll, die nicht in erster Linie privat sind, gehört zur (guten) Tradition dieser Kultkrimireihe. Nur selten jedoch fußt die Handlung einer Folge auf realer Zeitgeschichte – wie zuletzt beispielsweise eine Kieler Episode aus dem Jahr 2012, die am Rande den Fall Barschel thematisiert. Schon allein deshalb ist „Der rote Schatten“, die jüngste Folge aus Stuttgart, ein ganz besonderer Krimi, der lange im Gedächtnis bleiben wird.
Souverän und unerschrocken verknüpfen Raul Grothe und Dominik Graf in ihrem Drehbuch einen mysteriösen Todesfall aus der Gegenwart , der tatsächlich ein Mord war, mit der sogenannten Todesnacht von Stammheim, dem Selbstmord der Terroristen Andreas Baader, Gudrun Ensslin, Jan-Carl Raspe und Irmgard Möller in der Nacht zum 18. Oktober 1977. Wird Wilhelm Jordan (Hannes Jaenicke), der mutmaßliche Täter im aktuellen Fall der Kommissare Lannert und Bootz (Richy Müller und Felix Klare), vor Strafverfolgung geschützt, weil er als V-Mann des Verfassungsschutzes tief in die Geschehnisse von damals verstrickt ist?
Graf und Grothe konzentrieren sich bei der Vita des Verdächtigen schnell auf die seinerzeit heftig diskutierte Frage, ob der Selbstmord der Terroristen (nur Irmgard Möller überlebte) wirklich ein Selbstmord war und wer die Waffen in das Gefängnis geschmuggelt hatte. Kaum ein anderer Regisseur als Graf wäre wohl in der Lage, einen solchen Krimi zu inszenieren, ohne dass das Ergebnis wie eine unfreiwillig komische Geschichtsklitterung wirkt. Mit dem ihm eigenen Sinn für Spannung und unterstützt durch Meister an der Kamera (Hendrik A. Kley und Jakob Beurle) holt der vielfach ausgezeichnete Filmemacher die Vergangenheit zurück, zeigt – auch in Originaldokumenten – die Unerbittlichkeit des Kampfes Staat gegen RAF, gibt aber hier und da auch der fast sentimentalen Verklärung jener Zeit Raum. Vierzig Jahre danach wagt Graf überdies das noch vor Kurzem Undenkbare – er zeigt zwei Versionen des Geschehens von 18. Oktober 1977.
Doch der Münchner ist seit jeher ein Meister des (Polizei-)Thrillers, er packt den Fall voll mit gut gemachter Action, spielt gekonnt auf der Klaviatur behördlicher Lügen, Intrigen und schmutziger Tricks und sorgt im Schicksal seiner Hauptfigur für eine fast zynische Pointe. War es Mord – oder Selbstmord?
In einem so runden, komplexen Plot gewinnen auch die Figuren eine große Plastizität. Hannes Jaenicke glänzt als Abenteurer mit Abgründen, aber auch auf die Ermittlerseite sieht man mit ganz neuen Augen. Und dass sogar Carolina Veras Staatsanwältin diesmal eine gute Figur macht, bringt wohl nur Meister Graf fertig. Rudolf Ogiermann