Damit hat niemand gerechnet. Am 29. Mai 2010, vor zehn Jahren, gewinnt Deutschland beim Finale in der norwegischen Hauptstadt Oslo völlig überraschend wieder einmal den Eurovision Song Contest. Die damals 19-jährige Lena Meyer-Landrut verzaubert mit ihrem Popsong „Satellite“ und ihrer unbekümmerten Art ganz Europa. Im Interview erzählt die Sängerin (inzwischen 29), warum sie für viele inzwischen eine „Zicke“ ist und warum sich Medien so sehr auf ihr Privatleben stürzen.
Zehn Jahre ist der Sieg nun her. Ist die Zeit für Sie schnell oder langsam vergangen?
Irgendwie beides. Manchmal habe ich das Gefühl, dass es wahnsinnig schnell gegangen ist. Ein Wimpernschlag und schon sind zehn Jahre vorbei. Wenn ich das so ausspreche, ist das vollkommen irre. Auf der anderen Seite fühlt es sich an wie in einem früheren Leben. Weil einfach so viel passiert ist. Es ist eine wilde Fahrt gewesen bis jetzt.
Können Sie sich an den Finaltag und die Punktevergabe noch erinnern?
An den genauen Ablauf nicht mehr. Vor zehn Jahren waren Soziale Netzwerke auch kein Thema. Es gab kein Instagram, keine großen Liveticker. Dadurch fühlte sich der ESC auch nicht so groß und omnipräsent an wie heute. Von der Punktevergabe weiß ich noch, dass ich irgendwann hinter die Bühne geführt wurde und sich alle total freuten. Dabei lief die Verkündung noch. Ich konnte aber rechnerisch wohl nicht mehr eingeholt werden, was ich gar nicht gepeilt habe. Ich konnte es echt nicht glauben. Es fühlte sich so unreal an.
Danach ging es Schlag auf Schlag mit Interviews, Empfängen, Videodrehs und Plattenaufnahmen. Wann haben Sie das alles eigentlich realisiert?
Relativ spät. Sehr, sehr viele Jahre danach erst.
Und in der Zwischenzeit? Haben Sie alles mitgemacht mit einer gewissen Passivität?
Passivität würde ich gar nicht sagen. Ich habe immer gesagt, was sich für mich gut oder schlecht anfühlt. Aber ich war trotzdem unwissend. Ich habe viele Sachen mitgemacht, von denen ich noch keine Ahnung hatte. Ich hatte vorher ja noch nie Musik gemacht. Ich war auch viel zu beschäftigt und hatte überhaupt keine Kapazität und Zeit, Dinge aufzunehmen und zu lernen. Darum hat es auch so lange gedauert, bis ich den Schalter umlegen konnte.
Wann war das?
Das war erst 2017, als ich mein Album abgesagt und meine Tour abgebrochen habe. Das war für mich ein absoluter Wendepunkt. Da habe ich mir total viel Zeit genommen, um zu reflektieren.
Sie sagen heute, Sie hätten sich nach dem ESC-Sieg verändert, eine Schutzmauer hochgezogen, niemanden mehr richtig an Sie herangelassen. Wie bewusst war Ihnen das damals? Oder dachten Sie: Ich bin so wie immer?
Ich dachte, ich sei so wie immer. Ich habe das nicht bemerkt, es war auch nicht mein Plan. Das war einfach eine Reaktion auf Dinge, die mir passiert sind und über die ich nicht nachdenken konnte. Ich habe nur noch reagiert, reagiert, reagiert.
Die öffentliche Meinung hat sich dadurch aber verändert. Sie wurden von vielen als zickig und arrogant beschrieben. Wie sehr hat Sie das verletzt?
Das hat mich schon verletzt, ich habe es auch gar nicht verstanden. Das ist erst geschehen, als ich später verstanden habe, was mit mir passiert ist. Erst dann konnte ich es einordnen.
Aber dieses Bild haben einige bis heute noch von Ihnen, oder?
Ja, das ist definitiv so. Ich finde das auch krass. Klar, ich hatte eine Phase, in der ich komisch drauf war. Aber das Gefühl habe ich seit einigen Jahren nicht mehr. Ich bin auf jeden Fall wieder mehr ich selbst. Aber ich merke, dass es sehr viel länger dauert, Sachen wieder gutzumachen als Sachen kaputt zu machen. Einmal was Doofes gesagt, und es dauert lange, das wieder umzudrehen. Weil die negativen Sachen meistens lauter sind als die positiven.
Sie haben von Anfang an Ihr Privatleben geschützt…
Ich bin sehr froh, dass ich das gemacht habe. Das habe ich auch bewusst so entschieden, auch wenn die Idee von Stefan (Raab, Red.) kam. Der macht das ja auch sehr erfolgreich. Ich habe aber einen anderen Ansatz. Ich nutze die Sozialen Netzwerke und zeige mich dort privater als Stefan oder Herbert Grönemeyer. Ich bin auch eine andere Generation.
Einige Medien interessieren sich dennoch sehr für Ihr Privatleben. Woher kommt das Ihrer Meinung nach?
Das kommt mit dem Beruf und auch dadurch, wie ich mich in Sozialen Netzwerken verhalte. Ich hätte vielleicht noch die Möglichkeit, wenn ich mich komplett davon verabschieden würde. Das wäre ein klareres Signal. Aber so kämpfe ich einfach weiter dafür, dass meine Privatsphäre meine Privatsphäre bleibt und ich selbst entscheiden darf, was öffentlich wird und was nicht.
Wie schwer fällt es Ihnen, Menschen zu vertrauen?
Ich vertraue eigentlich Leuten und bin relativ klar darin, was ich sage und was nicht. Ich kann Menschen auch gut einschätzen, glaube ich. Ich bin aber auch ein Fan davon, das Gute im Menschen zu erwarten. Dass sie selbst entscheiden können, was moralisch okay ist. Ich werde vielleicht öfter enttäuscht als andere und muss mich in gewissen Dingen auch einschränken. Aber das ist Teil des Jobs und völlig okay.
War der frühe ESC-Sieg für Sie im Rückblick also mehr Fluch oder Segen?
Ein absoluter Segen. Ich habe dieses privilegierte und freie Leben auch wegen des ESC und bin jeden Tag dankbar dafür und demütig.
Das Gespräch führte Thomas Bremser.