Ein Glas Wein, eine letzte Zigarette vor dem Schlafengehen – auf der Terrasse seines Hauses in Wolfhagen-Istha will CDU-Politiker Walter Lübcke den Tag ausklingen lassen und wird am 1. Juni 2019 Opfer eines feigen Anschlags. Um 23.30 Uhr fällt ein Schuss, der eine Zäsur in der Geschichte der Bundesrepublik bedeutet. Der Kasseler Regierungspräsident – wegen seines Engagements für Flüchtlinge Feindbild der rechten Szene – wird mit einem Kopfschuss hingerichtet. Derzeit läuft am Oberlandesgericht in Frankfurt der Prozess gegen den mutmaßlichen Mörder Stephan Ernst, der seine Tat gestanden hat. Das Dokudrama „Schuss in der Nacht“ von Autor und Regisseur Raymond Ley, das die ARD heute um 22.15 Uhr zeigt, stützt sich auf die Vernehmungsprotokolle der Ermittler und schildert Ernsts Radikalisierung.
Zwischen der Ermordung Walter Lübckes und Ihrem Dokudrama liegen gerade einmal 18 Monate. Wann haben Sie mit den Recherchen begonnen?
Im Oktober vergangenen Jahres, vier Monate nach der Tat. Ich komme aus Kassel, insofern war es mir ein Anliegen, in die Gegend zurückzukehren und die Ereignisse um die Ermordung Lübckes zu recherchieren.
Es sind also persönliche Gründe, die Sie motiviert haben?
Auch. Bereits wenige Tage nach der Tat kam der Hessische Rundfunk auf mich zu und hat mich gebeten, den Fall rein dokumentarisch aufzuarbeiten. Aber natürlich berührt einen das besonders, wenn man in seinen Heimatort zurückkommt, in dem ein Mord von einem Rechtsradikalen verübt wurde.
Wie haben Sie die Nachforschungen erlebt, konnten Sie mit den Ermittlern sprechen?
Leider nicht. Wir versuchen natürlich immer Kontakt zu den Ermittlern aufzunehmen, wohl wissend, dass es bei dem Versuch bleiben wird. Die reden nicht mit der Presse, erst recht nicht, solange in Frankfurt der mutmaßliche Täter vor Gericht steht. Aber wir haben uns natürlich intensiv in die Anklageschrift eingearbeitet. Und dann konnten wir mit vielen Zeitzeugen aus Walter Lübckes direktem Umfeld sprechen – Menschen, die ihm sehr verbunden waren und die sein Schicksal sehr bewegt hat.
Sie lassen Schauspieler die Realität nachspielen und verquicken diese Szenen mit dem Material, das Sie vor Ort drehen konnten. Worin besteht für Sie der Reiz dieser Erzählform?
Es ging mir nicht darum, zu erzählen, wer Stephan Ernst wann die Waffe gegeben hat, sondern aus seinem Geständnis die Motive für die Tat herauszulesen. Seine Radikalisierung, von seiner Überfremdungsthese über die Bürgerversammlung in Lohfelden bei Kassel, auf der er sich über Lübckes Ansprache empörte, bis zu dem Moment, in dem Ernst ihn ins Fadenkreuz genommen hat. Diese „Reise in den Kopf“ des Täters wird von Robin Sondermann im Film sehr gut herausgespielt.
„Schuss in der Nacht“ beschreibt auch die undurchsichtige Rolle des Verfassungsschutzes in diesem Fall.
Der Verfassungsschutz hat versucht, Stephan Ernsts Freund und Kollegen Markus H. als V-Mann einzukaufen, aber der wollte wohl nicht. Man weiß um den ideologischen Einfluss, den er auf den mutmaßlichen Täter hatte, und die Vergabe des Waffenscheins an Markus H. ist ein Unding. Beide Männer haben Waffen gekauft, Schießübungen gemacht und sich auf eine Art „Bürgerkrieg“ vorbereitet. Das muss der Verfassungsschutz nicht alles ahnen, aber es gibt ja Informanten in diesem Umfeld. Die Situation wurde also ganz klar unterschätzt.
Das Gespräch führte
Astrid Kistner.