Wenn der Lockdown zur Falle wird

von Redaktion

Fälle von häuslicher Gewalt nehmen zu – Münchnerin Romy Stangl fordert im SWR-Talk „Mal ehrlich“ Konsequenzen

VON ASTRID KISTNER

Das Virus trifft uns alle – manche mit der ganzen Faust. Ein Satz, mit dem Prominente wie Natalia Wörner, Guido Maria Kretschmer und Emilia Schüle derzeit auf häusliche Gewalt aufmerksam machen. Die Plakate der Kampagne #sicherheim hängen an Tramhaltestellen, in der U-Bahn, an Bahnhöfen. Eine Aktion, die deshalb so wichtig ist, weil die Zahlen steigen. Im Jahr 2019 wurden allein in München rund 3000 Übergriffe gemeldet, im vergangenen Jahr waren es 20 Prozent mehr.

„Die Dunkelziffer ist sehr wahrscheinlich um ein Vielfaches höher. Ich befürchte viel Leid hinter verschlossenen Türen“, sagt Romy Stangl, Vorstandssprecherin der Initiative One Billion Rising München. Finanzielle Engpässe und das erzwungene Zusammenleben auf engem Raum erhöhen das Konfliktrisiko in Zeiten von Corona. „Im Lockdown dringt Gewalt nur noch selten nach draußen. Die Pandemie schützt die Täter“, weiß Romy Stangl. Sie ist heute um 22 Uhr zu Gast im SWR-Bürgertalk „Mal ehrlich – Wie stoppen wir häusliche Gewalt?“ Zum einen, weil sich Stangl seit drei Jahren als Aktivistin für betroffene Frauen einsetzt, zum anderen, weil die 45-jährige Münchnerin selbst einen langen Leidensweg hinter sich hat. „Zuerst waren es nur Beleidigungen, dann Schläge“, erinnert sie sich im Gespräch mit unserer Zeitung. Dabei sei sie mit Anfang 20 so sicher gewesen, ihren Traummann gefunden zu haben.

Zwei Jahre nach der Geburt des gemeinsamen Sohnes aber verändert sich die Beziehung. Ihr Lebensgefährte nimmt ihr das Handy weg, sperrt sie immer wieder ein, schlägt sie. „Wenn ein Mensch, den du liebst, dir so etwas antut, ist das unfassbar. Man versucht das Unerklärliche erklärbar zu machen und sucht nach Gründen“, sagt Stangl. Und wenn man die nicht findet, „dann sucht man die Schuld bei sich selbst“.

Schuld, Scham, Abhängigkeiten und das Gefühl der Ausweglosigkeit sind es, die Frauen häufig davon abhalten, sich Hilfe zu holen. Und wenn sie doch den Mut aufbringen, ist der Weg steinig und schwer: „Jede zweite Frau, die in Bayern in einem Frauenhaus Zuflucht sucht, wird abgewiesen“, sagt Stangl. „Es fehlt schlicht an Plätzen.“ In München gebe es drei Frauenhäuser mit 145 Betten für Frauen und Kinder. Laut der „Istanbul-Konvention“, der sich Deutschland angeschlossen hat (siehe Kasten), müssten es aktuell mehr als 400 sein.

In ihrem persönlichen Fall sei es die Zivilcourage einer Kindergärtnerin gewesen, die sie aus der Gewaltspirale befreit habe: „Sie bemerkte meine Verletzungen, setzte mich und meinen Sohn in ihr Auto und brachte uns ins Frauenhaus.“ Zwölf Jahre ist das her. Mittlerweile lebt die Münchnerin in einer glücklichen Beziehung.

Was sie sich während ihres Martyriums und danach gewünscht hätte? „Menschen, die die Kompetenzen erkennen, die Frauen mitbringen, die in gewalttätigen Beziehungen leben. Unter solchen Umständen zu arbeiten und Kinder großzuziehen, erfordert sehr viel Kraft. Stattdessen werden Betroffene oft als Opfer degradiert, die es nicht schaffen, ,einfach zu gehen‘.“ Der Fokus liege immer noch zu wenig auf den Tätern. „Gewalttätiges Verhalten muss schärfer geahndet werden“, sagt Romy Stangl. „Wenn wir ein Umdenken bei männlichen Tätern erreichen wollen, müssen wir Hilfsprogramme wie Anti-Aggressions-Kurse etablieren, zu denen die Verursacher des Leids verdonnert werden können.“

Häusliche Gewalt gegen Frauen, gegen Kinder, und ja, auch gegen Männer (wobei der weibliche Anteil der Betroffenen laut einer Studie bei 85 Prozent liegt) muss stärker ins Licht der Öffentlichkeit gerückt werden. „Wir brauchen Kampagnen, eine realistische Bedarfsermittlung, eine sichere Finanzierung von Frauenhäusern und Aufklärung an den Schulen“, fordert Stangl, die in der von Florian Weber moderierten Talkshow auch auf Politikerinnen treffen wird. Sie will sie mit ihrem Appell konfrontieren: „Gewalt in der Partnerschaft ist eine Tatsache. Eine, die sich quer durch alle Gesellschaftsschichten zieht.“

Hilfe gibt es beim

Frauennotruf München, Telefon 089/76 37 37, oder bei IMMA, Telefon 089/18 36 09.

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