Ein Land sitzt auf der Couch

von Redaktion

Mit der Arte-Serie „In Therapie“ arbeiten die Franzosen das Trauma des Anschlags auf das Bataclan auf

VON SABINE GLAUBITZ

Ariane hat Tränen in den Augen und wirkt doch völlig abgeklärt, als sie über die Situation in ihrer Klinik nach den Anschlägen vom 13. November 2015 spricht. „Es war vollkommene Totenstille. Und es waren Verletzte und Krankentragen und Blut überall“, erzählt die Ärztin ihrem Psychotherapeuten Philippe Dayan Tage nach dem Terror in Paris: „Es war so bizarr.“ Irgendwann seien die OP-Handschuhe ausgegangen.

Seit die Arte-Serie „In Therapie“ Anfang des Monats mit diesem Patientengespräch zeitgleich in Frankreich und Deutschland startete, macht sie Furore. Heute sind ab 21.45 Uhr die jeweils knapp halbstündigen Teile elf bis 15 dran. Per Mediathek kann man rasch aufholen.

Besonders im Nachbarland ist das Echo gewaltig. Dort wurden die online gestellten Videos seit Ende Januar bereits 18 Millionen Mal angeklickt. Ein Erfolg, den auch Arte sensationell nennt. Die Tageszeitung „Le Parisien“ bezeichnet die Serie in 35 Teilen als kollektive Therapie. Denn sie greift ein Ereignis auf, das Frankreich ins Herz traf – den Angriff von Islamisten auf die Pariser Konzerthalle Bataclan mit mindestens 89 Toten.

Bei „In Therapie“ empfängt der Psychotherapeut Philippe Dayan in seiner Pariser Praxis fünf Klientinnen und Klienten. Jede Sitzung entspricht einer Folge. Mehr als sieben Wochen wohnt man als Zuschauer den wöchentlichen Analysen bei. Die erste beginnt am 16. November, drei Tage nach den Anschlägen, mit Ariane, die nach dem Massaker im Bataclan pausenlos Verletzte operieren musste. Ihr folgt Adel. Er ist Polizist einer Spezialeinheit, die an jenem Freitagabend im Einsatz war. Er erzählt, wie er durch Blut waten und über Leichen steigen musste. Bilder, die ihn seitdem nicht mehr loslassen. Neben den beiden kommen noch eine 16-Jährige mit suizidalen Absichten und schließlich das Paar Damien und Léonora in Philippes Praxis, die tief in einer Beziehungskrise stecken.

Auch wenn keiner der Protagonisten bei den mörderischen Anschlägen unmittelbar verletzt wurde, haben die Attentate sie alle in irgendeiner Weise getroffen. Auch Philippe, dessen Wohnung nur wenige Schritte von dem Ort des Terrors entfernt liegt. Überall herrsche Krieg, erklärt er die Situation, auch in Partnerschaften.

„In Therapie“ ist die französische Adaptation einer israelischen Serie, die dort unter dem Titel „Betipul“ zwischen 2005 und 2008 lief. Seitdem wurde sie in zahlreiche Länder exportiert und entsprechend angepasst. Die französische Version ist die erste Serie von Éric Toledano und Olivier Nakache, die mit „Ziemlich beste Freunde“ international bekannt wurden. Mit Fingerspitzengefühl hat das Duo die Serie auf französische Verhältnisse übertragen und aus Einzelschicksalen das Bild einer traumatisierten Nation gezeichnet. Dabei setzte es auf hervorragende Schauspieler wie Frédéric Pierrot (Philippe Dayan), Mélanie Thierry (junge Ärztin), Reda Kateb (Polizist) und andere.

Laut einer Umfrage der Fachzeitschrift „Psychologies“ hat sich im Nachbarland bereits jeder dritte Bürger einer Therapie unterzogen. Für Pascale Breugnot, die in den Achtzigerjahren mit „Psy Show“ eine der ersten Therapiesendungen im Fernsehen lanciert hat, liegt der Erfolg auch in der jetzigen Krise begründet. Corona ersticke uns, erklärte sie der Zeitung „Le Parisien“. Diese Serie sei ein bisschen so, als würde einem damit ein Ausweg gezeigt, den man allein nicht finden könne.

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