Experimentelles Fernsehen im Privat-TV: Pro Sieben hat am Mittwochabend auf Initiative der Moderatoren Joko Winterscheidt und Klaas Heufer-Umlauf sieben Stunden freigeräumt, um mit einer Doku ohne Werbeunterbrechung auf Deutschlands Pflegenotstand aufmerksam zu machen. Unter dem Motto #Nichtselbstverständlich wurde mithilfe einer Bodycam in Echtzeit eine Schicht der Krankenpflegerin Meike Ista in der Uniklinik Münster gezeigt. Der Münchner Sender schrieb auf Twitter: „Bitte helft, dass aus diesem Abend eine große Respektkundgebung wird, die etwas ändert.“ Anerkennung gab es auch von der Konkurrenz: Arte lobte „ein Stück deutsche TV-Geschichte“, RTL nannte es eine „starke Aktion“.
Die Visite bei den Patientinnen und Patienten war mit jedem Arbeitsschritt zu sehen. Zuschauer erlebten unmittelbar, was es heißt, in der Pflege zu arbeiten. Die Sendung begann kurz nach 20.15 Uhr (dokumentiert am 18. März um 6 Uhr) – und war vorbei, als Ista Feierabend hatte. Das war im TV um 3 Uhr morgens. Im Schnitt verfolgten 730 000 Menschen „Joko & Klaas live“. Pro Sieben sprach von einer „Nettoreichweite“ von fast sechs Millionen. Damit ist die Zahl der Leute gemeint, die mindestens einmal kurz zuschauten.
Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) bezog sich am Donnerstag auf die Sendung: „Es ist gut, dass die Pflege jetzt in der Primetime läuft. Pflegerinnen und Pfleger verdienen unseren Respekt, unser Dankeschön, aber vor allem bessere Arbeitsbedingungen.“ Er kündigte dafür Gespräche mit Verbänden der Branche an.
Schon in der Nacht zum Donnerstag hatte SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz auf Twitter reagiert: „Man kann es nicht oft genug sagen – Danke an alle Pflegerinnen und Pfleger! Ohne sie geht nichts. Antwort auf diese Erkenntnis ist nicht, Beifall zu klatschen. Respekt heißt: gute Löhne und Arbeitsbedingungen.“ Zum Tweet des Finanzministers gab es auch Kritik. Der in der Sendung vorkommende Krankenpfleger Alexander Jorde schrieb: „Ich will keine Worte mehr, ich will Taten. Die SPD ist Teil der Bundesregierung. Du bist Vizekanzler, Olaf Scholz.“
In der Doku sagte Jorde: „Wir können nicht sagen: Morgen machen wir mal die Klinik zu oder morgen ist die Intensivstation mal zu, und wir gehen auf die Straße. Dann sterben Menschen! Das zeigt ja wieder, wie hoch unsere Verantwortung ist. Aber es begrenzt uns eben auch in unseren Möglichkeiten, unsere Interessen durchzusetzen.“ Viele Menschen forderten nach der Sendung mehr Engagement von den Regierenden. Tenor: Politik und Gesellschaft versäumten es seit Jahrzehnten, faire Bezahlung und gut leistbare Arbeitsanforderungen für die Pflegekräfte zu organisieren. Der Bielefelder Intensivpfleger Ralf Berning wies etwa auf die andauernde Überbelastung hin. Er kenne Leute, die 23 Tage am Stück arbeiteten, das sei „völlig unmenschlich“.
Winterscheidt (42) und Heufer-Umlauf (37) behandeln in „Joko & Klaas live“ immer wieder gesellschaftlich relevante Themen. Die Sendezeit zu ihrer freien Verfügung hatten sich beide in der am Dienstag ausgestrahlten Show „Joko & Klaas gegen Pro Sieben“ erspielt, in der sie in Wettkämpfen gegen ihren Sender antreten.