Da muss ein Missverständnis vorliegen. Wenn wir am 26. September in der Wahlkabine unsere Kreuzchen setzen, spielt es keine Rolle, ob Armin Laschet als junger Mann morgens um 4 Uhr Sahnetörtchen einer Bäckerei ausgefahren hat und ob Olaf Scholz persönlich Aldi oder Lidl lieber mag. Am Tag der Bundestagswahl geht es um Parteiprogramme, darum, wie die antretenden Politikerinnen und Politiker mit ihrem Team das Land führen wollen. Das weiß die Redaktion von Bild TV. Doch die Macher des neuen, frei empfangbaren Fernsehsenders der Boulevardzeitung wissen eben auch, dass das Durcharbeiten von Parteiprogrammen für Zuschauer mit der Lust auf entspanntes „Infotainment“ eher mittelspannend ist. Deshalb setzte man am Sonntag bei der „Kanzler-Nacht“ auf das, was auch in Print-Form das Erfolgsrezept der Zeitung ist: Emotionen, Provokation und in kurze Slogans zusammengefasste Informationen.
Die werden in Bannern eingeblendet. Das ist praktisch, man muss dann gar nicht mehr genau zuhören, was Armin Laschet (CDU) auf die Fragen von Paul Ronzheimer oder danach Olaf Scholz (SPD) im Interview mit Kai Weise sagt. Nach ein paar Sätzen wird alles in Schlagzeilen gebündelt. „Laschet: ,Kabul ist unser aller Schuld‘“ oder „Scholz: G20 klebt mir noch an den Klamotten“. Und jetzt: Bild dir deine Meinung!
Bei der Beurteilung stehen den Zuschauern netterweise vier Helfer zur Verfügung: die „Bildwähler-Jury“. Zwei Promis und zwei Menschen wie du und ich. Wobei mit Ex-Fußballmanager Reiner Calmund und der einstigen Boxerin Regina Halmich zwei bekannte Gesichter ausgewählt wurden, mit denen auch wir Normalos uns identifizieren sollen. Ist doch ursympathisch, wie Calmund jede Debatte um #MeToo vergessen macht und Moderatorin Patricia Platiel „Liebchen“ nennt. Immerhin Halmich bemerkt’s kritisch – doch Platiel lacht die unpassende Anrede weg. Wenn sie einer „Liebchen“ nennen dürfe, dann der Calmund! Nun ja.
Überhaupt möchte Platiel keine langen Stellungnahmen von den vier Studiogästen, die „das Volk“ vertreten, sondern bitte gleich überspringen zu Meinungen. „Daumen hoch oder Daumen runter für Herrn Scholz?“, „Welche Schulnote würden Sie Herrn Laschet geben?“ Man weiß nicht, was einen mehr zum Schreien bringen soll: die banalen Fragen der Moderatorin oder die Antworten der „Bildwähler-Jury“ wie die des Metzgers Andre Möllmer, der Laschet zu Beginn noch die Note Drei gibt, nachdem er aber hört, dass der Laschet früher zu nachtschlafender Zeit malocht hat (Stichwort: Sahnetörtchen ausfahren), schraubt er die Bewertung „deutlich“ nach oben. Will aber noch nicht verraten, wer seine Stimme bekommt. „Es soll ja spannend bleiben.“ Grins.
Insgesamt ist das alles ein kruder Mix aus US-Wahlkampfsendung und Castingshow. „Deutschland sucht den Superkanzler“. Bezeichnend für den neuen Sender ist, dass die Interviews mit den Kandidaten einzig von Männern geführt werden und die Kandidatin der Grünen, Annalena Baerbock, zu dieser „Kanzler-Nacht“ gleich gar nicht eingeladen wurde. Oder doch? Hat sie abgesagt? Auf Anfrage bei Bild TV heißt es dazu: „Das weitere Programm zur Wahl werden wir rechtzeitig bekannt geben.“ Es kann also sein, dass Baerbock sich noch den Fragen stellen wird. Man wünscht es ihr nicht.
Wobei: Sympathiepunkte kann man als interviewter Gast recht leicht sammeln. Einfach, weil die Interviewer derart aggressiv ihre Fragen stellen. Auch hier lautet die Devise: bitte keine komplizierten Antworten, Ja/Nein oder – besser noch – gleich nur Schuldeingeständnisse seitens der Politiker genügen. Denn so einfach ist das in der Welt von Bild TV: Wir brauchen Sündenböcke, und die können im Zweifel nur „die da oben“ sein. Paul Ronzheimer und Kai Weise gerieren sich als Moralapostel und gefallen sich selbst am allermeisten in der Rolle der knallharten Nachhaker der Nation.
An einer Stelle meint Scholz hintersinnig: „Die Zuschauer sind ja kluge, vernünftige Leute, die wissen, wie sie das einschätzen sollten.“ Man hofft es sehr.