Es ist die Geschichte einer Kindheit. Erzählt mit einer großen Klarheit, distanziert, nüchtern, aber doch voller Sensibilität und Gefühl. Ohne Selbstmitleid berichtet die aus Kino und Fernsehen bekannte Schauspielerin Andrea Sawatzki von ihren Eltern und ihrem Leben als uneheliches Kind einer alleinerziehenden Mutter. Was Mitte der Sechzigerjahre in der schwäbischen Provinz kein Leichtes gewesen sein dürfte. Wirklich schlimm wird diese Jugend aber erst, als die Ehefrau von Andreas Vater stirbt und die Geliebte, Andreas Mutter, mitsamt der gemeinsamen Tochter bei ihm einzieht.
Andrea ist zu diesem Zeitpunkt acht Jahre alt und soll auf einmal in einem Vorort von München leben, in einem fremden Haus und mit einem ihr völlig unbekannten Mann. Der zudem wenig Anstalten macht, die bisher nicht ausgefüllte Vaterrolle nun plötzlich liebevoll anzunehmen. Als das Mädchen Bauchschmerzen hat, als er es von Verwandten abholt, lässt er es kurzerhand dort. Andrea verpasst dadurch die Hochzeit der eigenen Eltern. „Einen Tag darauf stand meine Mutter vor dem Haus, um mich abzuholen. Sie weinte unaufhörlich, nahm mich fest in den Arm, küsste mich und bat mich, ihr zu verzeihen, dass sie sich nicht gegen meinen Vater hatte durchsetzen können.“
Doch die wirkliche Leidenszeit hat für Andrea gerade erst begonnen. Ihr Vater Günter Sawatzki, 15 Jahre älter als die sich endlich im Glück wähnende Mutter, hat seine guten Tage schon hinter sich. Beruflich, finanziell und vor allem auch gesundheitlich. Stück für Stück gleitet der Mann in die Demenz ab. Die Autorin Andrea Sawatzki beschreibt diese Phasen wortgewandt, präzise und nüchtern, aber immer auch mit einer schier unzerstörbaren Zuneigung. Aus dem anfangs unterhaltsamen, gebildeten Menschen wird ein böser, wütender, gewalttätiger Alter. Andrea muss die Launen des Vaters rund um die Uhr aushalten, denn die Mutter reibt sich als Nachtschwester auf und soll nach Schicht-Ende auch ein paar Stunden schlafen dürfen. Zu seiner einzigen Tochter war Günter Sawatzki niemals besonders aufmerksam oder liebevoll. Dann aber wird er zu einer regelrechten Gefahr für Leib und Seele des Kindes.
Dass aus dem kleinen Mädchen in einem solchen Umfeld trotzdem eine empathische, liebenswerte und warmherzige Frau wurde, liegt wohl in erster Linie an der absolut bewundernswerten Mutter, die trotz beruflicher und privater Dauerbelastung die schlimmsten Härten auffangen konnte.
In „Ein allzu braves Mädchen“ hat Andrea Sawatzki sich ihre dunkle Vater-Tochter-Thematik schon einmal von der Seele geschrieben. Damals noch mit mehr Thriller-Elementen versehen, auf ein klares Finale hin konzentriert. Diesmal liest sich die beklemmende Geschichte, genauer und detaillierter geschildert, wie ein Lehrstück in der Kunst der Resilienz.
Andrea Sawatzki:
„Brunnenstraße“. Hoffmann und Campe, Hamburg, 289 S.; 24 Euro.