Die „Tatort“–Folgen aus Münster sind die mit Abstand meistgesehenen Sendungen des Jahres – aber in diesen Zeiten müssen sich sogar Frank Thiel und Karl-Friedrich Boerne einmal mit dem zweiten Platz zufrieden geben. Am vergangenen Sonntag erreichte ein ARD-„Brennpunkt“ rekordverdächtige 11,07 Millionen Zuschauer und erzielte so knapp den Tagessieg vor dem Kultkrimi. Der Krieg in der Ukraine mit seinen schrecklichen Bildern beschert den regulären Nachrichtenformaten und den Sondersendungen vor allem im öffentlich-rechtlichen Fernsehen generell überdurchschnittliche Quoten – aber auch die Privaten sowie die reinen Nachrichtensender profitieren. Das ergab eine Auswertung der AGF-Videoforschung, die die tägliche Nutzung der Fernsehsender misst.
Spitzenreiter ist regelmäßig der „Brennpunkt“ im Ersten, der bereits am Sonntag der ersten Kriegswoche mit 9,4 Millionen Zuschauern die Zehn–Millionen-Marke nur knapp verfehlte. Und dabei handelt es sich nicht nur um die traditionelle Zuschauerschaft von ARD und ZDF, die Älteren ab 50 Jahren. „Wie schon in der Corona-Pandemie zeigt sich, dass Sender mit hoher Nachrichtenkompetenz bei steigendem Informationsbedürfnis überdurchschnittlich in jüngeren Zielgruppen gewinnen können“, sagt dazu AGF-Geschäftsführerin Kerstin Niederauer-Kopf. So habe die „Tagesschau“ im Ersten ihre durchschnittliche Sehbeteiligung um 7,1 Prozent auf 6,27 Millionen Zuschauer gesteigert. Allein bei den 14- bis 29-Jährigen lag das Plus demnach bei rund 52 Prozent – das entspricht rund 400 000 Zuschauern. Auch die 19-Uhr-„heute“-Sendung im Zweiten hatte ein Plus von mehr als 40 Prozent bei den 14- bis 29-Jährigen (140 000 statt zuvor 100 000 Zuschauer).
Stark erweitert haben seit Beginn des Krieges auch die Privaten ihr Nachrichtenangebot. Seit dem 11. September 2001 habe es nicht mehr so viele Sondersendungen zu einer Breaking-News-Lage gegeben, teilt RTL mit. In den ersten Tagen kamen demnach beim Kölner Privatsender und beim News-Ableger ntv mehr als 80 Stunden Sondersendungen zusammen. Allein die „RTL Aktuell Spezial“-Ausgaben brachten es auf bis zu drei Millionen Zuschauer. „Wir haben lange nicht zu einem Thema so viele Sondersendungen gemacht wie zu diesem Krieg“, bestätigt für Sat.1 Chefredakteurin Juliane Eßling. Und Pro-Sieben-Chefredakteur Stefan Vaupel konstatiert: „Die regelmäßigen 20.15-Uhr-Sondersendungen sind von unseren Zuschauern nachgefragter als vergleichbare Sondersendungen in der Vergangenheit.“
Ein deutliches Plus bescherte die Kriegsberichterstattung den reinen Nachrichtenkanälen, deren Marktanteil im Vergleich zu den klassischen Sendern eher gering ist. Laut den Zahlen, die die AGF-Videoforschung in Zusammenarbeit mit der GfK erhoben hat, profitierte vor allem ntv aus der RTL-Gruppe. Lag der Marktanteil heuer bis zum 23. Februar noch bei im Schnitt 1,1 Prozent, stieg er nach dem Beginn der russischen Invasion am 24. Februar auf 2,3 Prozent. Welt (früher N24) konnte demnach seinen Marktanteil von 1,0 auf 1,9 Prozent fast verdoppeln. Phoenix steigerte sich von 0,8 auf 1,4 Prozent, Tagesschau 24 von 0,4 auf 0,8 Prozent.
Groß ist das Nachrichteninteresse ferner im Netz. So verzeichnete das Online-Nachrichtenangebot „ZDF heute“ laut Mainzer Sender am 24. Februar mit 4,11 Millionen Visits die höchste Besucherzahl seit mehr als einem halben Jahr. Dass der militärische Konflikt auf europäischem Boden die Menschen beschäftigt, zeigt sich laut ARD auch in den Sozialen Netzwerken. Am ersten Kriegstag habe das Instagram-Profil der „Tagesschau“ vier Prozent Nutzerinnen und Nutzer dazugewonnen, zudem beobachten die Redaktionen eine starke Zunahme von Fragen, Anmerkungen und Kommentaren: „Pro Post werden doppelt so viele Kommentare wie gewöhnlich auf Instagram abgegeben, ebenso bei Youtube.“
Sogar Bild TV, dem Medienexperten noch vor einiger Zeit das baldige Aus prophezeit hatten, verzeichnet ein höheres Zuschauerinteresse, wenn auch auf niedrigem Niveau. Auf 0,2 Prozent bei den 14- bis 49-Jährigen beziffert man dort den Marktanteil. Chefredakteur Claus Strunz führt das auf die „Live-Berichterstattung unserer Reporterinnen und Reporter zur russischen Invasion“ zurück.
Sogar Bild TV erhöhte seinen Marktanteil