„Ich habe mir gewünscht, dass ich drei Hände habe“, sagt Hüseyin B. im Film mit zitternder Stimme. B., Zeuge des Amoklaufs von München, hatte versucht, den von mehreren Schüssen getroffenen Giuliano K. zu retten – vergeblich, der 19-Jährige verblutete in seinen Armen. Einer von neun Menschen mit Migrationshintergrund, die der 18-jährige David Ali S. am Abend des 22. Juli 2016 am OEZ wahllos tötete, bevor er sich selbst eine Kugel in den Kopf schoss. Kurz vor dem sechsten Jahrestag des Ereignisses, das tiefe, bis heute nicht heilende Wunden in die Familien der Opfer riss, zeigt der Bezahlsender Sky ab morgen die vierteilige Doku „22. Juli – Die Schüsse von München“ von Autor und Regisseur Johannes Preuss.
Es sind Bilder, die sich ins kollektive Gedächtnis der Menschen in der Landeshauptstadt und weit darüber hinaus eingebrannt haben – verwackelte Handyvideos, die schemenhaft den Täter zeigen, schreiende Menschen, die um ihr Leben rennen, Polizisten am Limit. Die Bilder zeigen aber auch das Ausmaß der Massenpanik, die – ausgelöst und befeuert durch Social Media – innerhalb kurzer Zeit die ganze Stadt erfasste und weitere Verletzte forderte. Bis zu 73 angebliche Schießereien wurden der Polizei bis zum späten Abend gemeldet, bis endlich, weit nach Mitternacht, klar war, dass es nur einen Tatort gab – am OEZ.
Bei einer Gesamtlänge von fast vier Stunden ist – natürlich – vieles redundant in dieser Produktion, die klassisch Originalbilder von damals, Ausschnitte aus Nachrichten, Live-Reportagen und privaten Videos mit Statements von Augenzeugen, Polizeiführern, Politikern und Wissenschaftlern verknüpft. Und doch zeigt sie die Ereignisse auch aus einer anderen Perspektive, die die Politikerformel vom „Anschlag auf ein friedliches München“ in ein etwas anderes Licht rückt. Es war, das legen „Die Schüsse von München“ nahe, ein Amoklauf mit Ansage.
Denn Ali S., Sohn iranischer Migranten, der sich selbst den Vornamen David gab, war als Jugendlicher jahrelang Opfer von Mobbing. Das schildern Freunde, die aus Angst vor Bedrohung anonym bleiben wollten. Ihren Worten ist zu entnehmen, dass die Schule kein Mittel fand, die Attacken der mutmaßlich deutsch-türkischen und deutsch-serbischen Mitschüler zu unterbinden. Vermutlich Ausgangspunkt eines Radikalisierungsprozesses, den die Doku minutiös schildert – und in dem der Film „Matrix“, „Egoshooter“-Computerspiele und schließlich Foren rechtsradikaler Kreise im Darknet eine wichtige Rolle spielen. Hier kaufte der junge Mann am Ende auch die Waffe, mit der er seine Tat beging. Dass David Ali S. den norwegischen Massenmörder Anders Breivik verehrte, Gewaltfantasien („Ich schieße Euch in den Kopf“) und Rachegedanken äußerte („Der Tag der Abrechnung wird unvermeidlich sein“), blieb, auch das zeigt der Film, seinem engsten Umfeld nicht verborgen.
Von der Notwendigkeit, „hinter die Kulissen einer Tat zu schauen, damit das bloße Erschrecken einem Wissen weicht“, spricht Jochen Köstler, einer der beiden Produzenten von „Die Schüsse von München“. Unwissen sei „eine Gefahr, die man bekämpfen kann“. Der Sky-Vierteiler mit seiner modernen Bildsprache und der Expertise derer, die darin zu Wort kommen, ist in diesem Sinne weit mehr als eine Chronologie der Ereignisse, sondern eine Analyse, die in diesem Genre beispielhaft ist.