Wer in einer Psychiatrie aufwächst, hat vielleicht keine andere Wahl. Als Tochter eines Vaters, der als stellvertretender Leiter einer derartigen Einrichtung arbeitete, war Natalie Scharf jedenfalls von Kindesbeinen an mit Geschichten und Schicksalen von Menschen konfrontiert, deren Leben aus den Fugen geraten war. „Bei uns wurden am Abendbrottisch oft die Fälle besprochen, um die sich mein Vater tagsüber gekümmert hatte“, erzählt sie im Gespräch mit unserer Zeitung. Natürlich anonym, sie kannte weder Namen noch Gesichter der Patienten. „Aber das Interesse für die menschliche Psyche und die Frage, wie man wird, was man ist, war geweckt.“ Es hält bis heute – und macht die Drehbücher, die Scharf als Autorin schreibt, und die Filme, die sie produziert, zu sehr besonderen.
Mehr als 100 Geschichten hat die 56-Jährige, die in Wasserburg am Inn geboren wurde, in ihrer Karriere bis jetzt geschrieben, darunter 43 Folgen für die „Frühling“-Reihe mit Simone Thomalla, und das Drama „Tsunami“ (2012). Doch die Serie, die das ZDF ab heute an drei aufeinanderfolgenden Tagen ausstrahlt, ist die bisher schwierigste, aufwendigste, aufreibendste für sie gewesen. Fünf Jahre hat sie an den Büchern gefeilt, jeden Dialog immer wieder auf den Prüfstand gestellt, umformuliert, verworfen, wieder neu geschrieben. Entstanden ist mit „Gestern waren wir noch Kinder“, so der Titel des Werkes, nichts weniger als ein furioses Fernseh-Erlebnis. „So ein Brett bohrt man tatsächlich wohl nur ein oder zwei Mal im Leben“, sagt Natalie Scharf und klingt dabei – zu Recht – durchaus stolz.
Erzählt wird die Geschichte einer Familie, die im bayerischen Voralpenland ein auf den ersten Blick idyllisches Leben führt. Tolles Haus, drei gute Kinder, eine im Grunde glückliche Ehe. Doch dann: An ihrem 44. Geburtstag tötet Peter Klettmann seine Frau Anna. Scheinbar aus dem Nichts. Er gesteht sofort, ruft selbst die Polizei. Nur über die Motive sagt er zunächst: nichts. Was ihn zu der Tat gebracht hat, wie er wurde, was er ist, wie passieren konnte, was passiert ist – all das wird von nun an in Rückblenden erzählt.
Klar ist: In dieser Familie hat jede, aber wirklich jede Figur ein ordentliches Päckchen zu tragen. Hier geht niemand unbeschwert durchs Leben. Dass der Tonfall der Folgen, die vom ZDF treffenderweise als Mix aus Familienserie und Thriller eingeordnet werden, trotzdem nicht durchgängig düster ist, sondern mitunter sogar heiter, ist neben den virtuosen Dialogen der Inszenierung von Nina Wolfrum zu verdanken. Und der Musik, die ganz wunderbar ausgewählt und auf die jeweilige Zeit abgestimmt ist, über die gerade erzählt wird (ein Hoch auf die Achtziger!).
Wie schafft Natalie Scharf es beim Schreiben, angesichts der Fülle an Charakteren und Handlungssträngen nicht die Übersicht zu verlieren? „Ich habe das alles im Kopf“, sagt sie und lacht. Also keine Pinnwand, an der die wichtigsten Eigenschaften ihrer Figuren hängen? Kästen mit Inhaltsangaben der einzelnen Folgen? „Nein. Ich sehe das Konstrukt immer vor mir und merke mir alles.“ Ihr Großvater war Mathematik- und Physik-Professor. „Vielleicht hab’ ich das von ihm.“ Drehbuch schreiben habe mehr mit Mathe zu tun, als man denke.
Scharf verschweigt nicht, dass man während des Entstehungsprozesses so einer Mammut-Produktion auch mal an seine Grenzen kommt. „Da ist man dann verzweifelt, natürlich“, sagt sie. Und fügt sogleich hinzu: „Das Glück, wenn man es geschafft hat, ist am Ende dafür umso größer.“ Es sei ein steiniger Weg zum Gipfel gewesen. Aber einer, der sich gelohnt hat. Die Aussicht von oben, um im Bild zu bleiben, ist schlicht großartig.
Die Serie
läuft ab heute Abend, 20.15 Uhr, im ZDF. Alle sieben Folgen sind bereits in der Mediathek abrufbar.