Bei Anruf: Action

von Redaktion

Netflix ist mit der Serie „The Night Agent“ auf Rekordjagd und kündigt eine zweite Staffel an

VON MICHAEL SCHLEICHER

Er ist nur der Telefonmann. Klar, Peter Sutherland arbeitet im Keller des Weißen Hauses, gehört zu einer geheimen FBI-Einheit, führt ein Leben nach der Stechuhr – dennoch: Er ist Telefonist, so einfach, so unaufregend. Seine Aufgabe ist, vor einem Apparat zu sitzen, über den sich Agenten melden, wenn sie in Not sind. Das passiert eigentlich nie – also studiert der junge Mann halt Akten.

Trotzdem muss er zufrieden sein. Denn obwohl er einen Bombenanschlag in der U-Bahn verhindert hatte, galt Sutherland plötzlich als Verräter, gar als Strippenzieher des Verbrechens. Weil der wahre Täter nicht gefasst werden konnte – und weil sein Vater einst eine unrühmliche Rolle im US-Sicherheitsgefüge spielte. Jenen, die Macht haben, genügte das, um den Sohn kaltzustellen.

Peter Sutherland ist das Zentrum der neuen Serie „The Night Agent“; Netflix hat die zehn Folgen der ersten Staffel gerade veröffentlicht. Die Produktion basiert auf dem gleichnamigen Roman des US-Autors Matthew Quirk, der (bislang) nicht auf Deutsch vorliegt. Es ist eine spannende, gut gebaute Geschichte mit zahlreichen überraschenden Wendungen, die hier erzählt wird. Dabei beginnt das Schlamassel, das sich allmählich zu einem tiefen Abgrund an Machtmissbrauch, Manipulation und Mord weitet, mit einem Telefonat. Klar.

Sutherland nimmt den Anruf von Rose Larkin entgegen, einer IT-Expertin, die bei Onkel und Tante wohnt. Als Einbrecher in deren Haus eindringen, geben die beiden ihrer Nichte die „Night Agent“-Nummer. Der Telefonist kann die junge Frau in dieser Nacht retten. Als die beiden einander begegnen, wird ihnen – und uns – nach und nach klar, dass der Einbruch nur Teil eines brutalen Puzzles war. Die Macher der Serie, darunter Produzent Shawn Ryan, der etwa „The Shield“ verantwortet hat, lassen sich Zeit, bis sie das Gesamtbild des Komplotts zeigen. Natürlich variiert „The Night Agent“ jene dramaturgischen Kniffe, die unbedingt zum Action-Genre gehören. Über allem steht dabei die Frage: Wem dürfen Sutherland und Larkin trauen? Das heißt aber auch: An welche Figur können wir, das Publikum, uns halten?

Inszeniert sind die jeweils zwischen 45 und 60 Minuten langen Folgen sehr stimmig. Wie bereits die ähnlich gestrickte BBC-Serie „Bodyguard“, die in Deutschland im ZDF lief, wird „The Night Agent“ von einem guten Ensemble getragen. Es besteht aus für deutsche Zuseher wenig bekannten Schauspielerinnen und Schauspielern, was die Produktion unverbraucht wirken lässt. Hauptdarsteller Gabriel Basso war bei uns zuletzt 2020 in Ron Howards „Hillbilly-Elegie“ im Kino zu sehen; außerdem wirkte er 2011 in J. J. Abrams Science-Fiction-Überraschungserfolg „Super 8“ mit. Der 28-Jährige zeigt Sutherland als Getriebenen, der das Richtige tun will und sich fragt, wie weit er dabei Grenzen überschreiten darf. Kein Held, wie er im Buche steht, sondern einer, der wachsen muss.

Das Format ist kurzweilig, knifflig, unterhaltsam. Ärgerlich ist nur, dass Regisseurin Millicent Shelton die letzte Folge tief in den Pathos-Eimer getaucht hat und obendrein ein unpassend antiquiertes Frauenbild zeichnet. Dennoch hat „The Night Agent“ weltweit einen tollen Start hingelegt und belegt derzeit Platz neun in der Liste der erfolgreichsten englischsprachigen Serien auf Netflix. Der Konzern hat Staffel zwei bereits in Auftrag gegeben; 2024 wird sie erscheinen.

Artikel 2 von 2