Der Engel von Hamburg

von Redaktion

Beeindruckende Arte-Dokumentation über die brasilianische Fluchthelferin Aracy de Carvalho

VON KATHARINA ZECKAU

Eine „geborene Heldin“ war sie nicht: die junge Brasilianerin Aracy de Carvalho. Aber sie verfügte über ein paar Eigenschaften, die Heldentum zumindest begünstigen: viel Mut, eine ausgeprägte Sehnsucht nach Unabhängigkeit sowie ein starkes Gerechtigkeitsempfinden.

Mitte der Dreißigerjahre war die alleinerziehende Mutter eines kleinen Sohnes mit diesem über den Atlantik gereist – aus ihrer Heimat Brasilien nach Deutschland, dem Herkunftsland ihrer Mutter. In Sao Paulo war die getrennt lebende Frau Stigmatisierung und Vorurteilen ausgesetzt gewesen. Dem wollte sie entfliehen, im vermeintlich liberalen Europa ein neues Leben beginnen.

Der Dokumentarfilm „Die Fluchthelferin – Aracy de Carvalho“, den Arte an diesem Donnerstag um 20.15 Uhr ausstrahlt, erzählt die Lebensgeschichte dieser auffallend selbstbestimmten Frau. Die zunächst unpolitisch war, Spaß haben und unabhängig leben wollte. Die aber von den Umständen ihres neuen Lebens dazu gedrängt wurde, sich zu positionieren.

Denn das freigeistige Deutschland, das sie auf einer Reise in den Zwanzigerjahren kennengelernt hatte, gab es nicht mehr, als sie 1934 in Hamburg vom Schiff stieg. Aracy kam in einem Deutschland an, das kurz zuvor von den Nationalsozialisten übernommen worden war. Ein Land, das sich, wie der Film von Gabriele Rose engagiert nachzeichnet, fortan sukzessive zu einer radikal antisemitischen Diktatur veränderte. Ab 1936 arbeitete Aracy beim brasilianischen Konsulat in Hamburg, war dort für die Visa-Vergabe zuständig.

Zugleich versuchten immer mehr Juden, aus einem zunehmend feindlichen Deutschland auszuwandern. Aracy, die in Brasilien selbst Ausgrenzung erlebt hatte, wollte deren Diskriminierung nicht mittragen. Und setzte sich immer öfter über die gleichfalls antisemitischen Vorgaben der nationalistischen brasilianischen Regierung hinweg. Zudem baute sie ein Netzwerk mit Helfern in anderen Hamburger Behörden auf. Wie vielen Juden die junge Frau damit das Leben rettete, ist nicht bekannt; Schätzungen gehen von 80 bis zu mehreren hundert Personen aus.

„Die Fluchthelferin – Aracy de Carvalho“ erzählt aber nicht nur die Geschichte dieser Frau, die sich so beeindruckend von ihrem Gewissen leiten ließ. Der Film bettet ihre Story ein in eine reiche, äußerst informative Illustrierung des damaligen politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Klimas in Deutschland und Brasilien.

Mithilfe von Archivmaterial, Interviews mit durchweg eloquenten Historikerinnen und Historikern wird ein stimmiges, beklemmendes Bild jener Jahre gezeichnet. Dazu kommen Gespräche mit Aracys Enkelin und Urenkelin sowie Nachkommen von Menschen, die durch die Hilfe der Konsulatsangestellten aus Nazi-Deutschland fliehen konnten.

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