Das Gesicht des Neoliberalismus

von Redaktion

Der deutsch-französische Kulturkanal Arte zeigt ein Porträt Margaret Thatchers und der von ihr geprägten Ära

VON KATHARINA DOCKHORN

Selbst ihr Tod am 4. April 2013 spaltete die Briten. Die einen trauerten um Margaret Thatcher, die erste Frau an der Spitze einer Regierung des Vereinigten Königreiches, die anderen versammelten sich zu spontanen Freudenfeiern. Für sie blieb sie der „Milk Snatcher“, die Milchdiebin, die als Bildungsministerin britischen Kindern im Jahr 1970 die kostenlose Milch gestrichen hatte – ein Vorgeschmack auf ihre neoliberale Politik in ihrer Amtszeit von 1979 bis 1990. Der Welt bleibt sie als „Iron Lady“ (Eiserne Lady) in Erinnerung. Den Spitznamen verpasste ihr eine sowjetische Zeitung. Aber er gefiel ihr. Mit solch kleinen Anekdoten würzt Autor und Regisseur Guillaume Podrovnik seine eineinhalbstündige Dokumentation „Die Thatcher-Jahre“, zu sehen heute um 20.15 Uhr bei Arte.

Der Film folgt der 1925 geborenen Politikerin von der Kindheit bis zum erzwungenen Abschied vom Amt nach der Rebellion der eigenen Partei. In den knapp zwölf Jahren als Premierministerin prägte sie die britische und europäische Politik des späten 20. Jahrhunderts wie kaum eine andere Persönlichkeit. Sie gab sich als sparsame, volksnahe Hausfrau und kleinbürgerliche Krämerstochter. Zugleich leitete sie aber den Abschied vom Sozialstaat ein.

Thatcher übernahm ein Land, das 1976 nur knapp am Staatsbankrott vorbeigeschlittert war. Die Briten sehnten sich nach einem starken Mann, der ihr Land zu alter Blüte zurückführt. Und bekamen eine Frau, die dies ernst meinte. Vor ihrer Wahl versprach sie auch, die Immigration einzudämmen. Zehn Jahre später gehörte sie zu den Vordenkern des Brexit.

Thatcher, die 1980 im damaligen US-Präsidenten Ronald Reagan einen Verbündeten fand, machte Großbritannien zum Versuchslabor neoliberaler Wirtschaftstheorien ohne soziale Abfederung. Rücksichtslos baute sie die Industrie- zur Wissensgesellschaft um. Widerstand erstickte sie mit eiserner Hand, ein besonderer Dorn im Auge waren für sie die Gewerkschaften. Während des einjährigen Streiks der Bergarbeiter gegen Grubenschließungen 1984/85, der von vielen Frauen aus dem ganzen Land unterstützt wurde, bezeichnete sie die Organisation der Arbeiter als „den Feind im Inneren“. Die Streikenden konnten keine ihrer Forderungen durchsetzen, auch weil die Regierung sich einmischte.

Ihre Rezepte wurden zur Blaupause von Politikern in vielen Ländern, das ist in der Dokumentation unübersehbar. Sei es bei großen Entscheidungen wie dem Degrowth – also der bewussten Abkehr vom Wirtschaftswachstum – ganzer Industriezweige oder in Details wie der Einführung der Volksaktie der einst staatlichen Telefongesellschaften in Großbritannien und Deutschland. Ein Experiment, das scheiterte.

Die Dokumentation macht 15 Jahre britische Geschichte mit zahlreichen Archivaufnahmen, der Musik der Ära und vielen Zeitzeugen lebendig. Die genaue Analyse ökonomischer und gesellschaftlicher Prozesse wird allgemeinverständlich dargestellt. Historiker, Experten und Prominente wie der Filmregisseur Ken Loach, einer der vehementesten Kritiker ihrer Politik, ordnen die Rolle der Eisernen Lady ein. Sie habe die Gier etabliert, sagt Loach – und dürfte damit Millionen Briten aus der Seele sprechen. Andere Experten halten dagegen, dass Millionen Babyboomer und die Generation X vom Wandel zur Wissensgesellschaft profitiert hätten.

Die nicht zu übersehenden Parallelen zur Politik in vielen Ländern lassen sich auch als eine Warnung betrachten. In Großbritannien wächst die Armut, spaltet sich die Gesellschaft zunehmend in Arm und Reich. Das zeigt sich auch im Verfall ganzer Städte oder Stadtteile, die nur wenige Meter von den Palästen entfernt liegen.

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