Düstere Aussichten

von Redaktion

Das Genre der Near-Future-Filme und -Serien boomt – Expertin konstatiert „Angstlust“ beim Publikum

VON GREGOR THOLL

Science Fiction gehört zu den populärsten Literatur- und Filmgenres. Die Unterkategorie „Near Future“ begeistert in Fernseh- und Streamingproduktionen in jüngerer Zeit besonders. Man denke an Serien wie „Black Mirror“, die pro Folge meist eine einzelne technische Neuerung als Horrorvision durchexerziert, aber auch an „Der Schwarm“ oder an den neuen Netflix-Thriller „Paradise“ mit Iris Berben, in dem sich Reiche Lebenszeit kaufen können (wir berichteten).

Warum sind solche in naher Zukunft spielende Schreckensvisionen so beliebt? „Das Genre ,Near Future‘ konzentriert sich darauf, Zukunftsszenarien aufzuzeigen und ihre Auswirkungen auf Mensch und Gesellschaft durchzuspielen“, sagt die Politikwissenschaftlerin Isabella Hermann. Die Gegenwart werde damit kritisch hinterfragt und das Publikum zum Nachdenken angeregt. „Aktuelle Herausforderungen werden meist ins Negative extrapoliert, etwa Entmenschlichung durch fortschreitende Technik oder die Gefährdung von Demokratie und Freiheit durch Populismus“, sagt Hermann. Solche Sujets fesselten die Leute, weil sie „Angstlust“ weckten.

In den vergangenen Jahren gab es aufsehenerregende Polit-Sci-Fi wie „The Handmaid’s Tale – Der Report der Magd“ oder „Years and Years“, Stromausfallserien wie „Blackout“ und „Alles finster“ oder die Seuchenserie „Sløborn“. Near-Future-Thriller dieser Art spielen in den nächsten zehn bis 50 Jahren – und nicht etwa im Jahr 3000. Sie sind eingebettet in eine Welt, die sich nicht allzu sehr von der heutigen unterscheidet. Auch Stanley Kubricks legendäres Weltraumepos „2001 – Odyssee im Weltraum“ von 1968, in dem sich eine KI scheinbar bösartig gegen Menschen wendet, ist aus damaliger Sicht ein Near-Future-Film.

Themen können heute auch Technologien wie der Klimawandel und politische Turbulenzen sein. Im August startet zum Beispiel die Serie „Arcadia“ im Ersten, in der angesichts knapper Rohstoffe ein Punktesystem über das Leben von Menschen entscheidet. Abgedreht ist auch die Sky-Serie „Helgoland 513“, in der nach einer Apokalypse 513 Bewohner im Jahr 2036 auf der Nordseeinsel ums Überleben kämpfen. Und 2024 springt die bisher medizinhistorisch angelegte ARD-Serie „Charité“ ins Jahr 2049. „Bei Near-Future-Science-Fiction gibt es einen schmalen Grat zwischen einer überzeugenden Darstellung der nahen Zukunft und einer unglaubwürdigen, peinlichen Vorhersage“, sagt Expertin Hermann. Es erfordere „ein gutes Verständnis aktueller Trends und eine sorgfältige Balance zwischen Innovation und Plausibilität, um eine glaubwürdige und fesselnde Geschichte zu erschaffen.“

Traditionell stark erscheinen in der Science-Fiction die USA und Großbritannien, aber auch Osteuropa. „Deutschland ist kein Vorreiter, aber es gibt schon gute Beispiele“, sagt Isabella Hermann. Herausragend sei etwa die fünfteilige ZDF-Serie „Das blaue Palais“ von Rainer Erler, die zwischen 1974 und 1976 gedreht wurde, eine schlosshafte Villa irgendwo auf dem Land, in der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler verschiedene Experimente durchführen – zum Beispiel Hirnverpflanzungen. Near Future biete meist Dystopien, also einen pessimistischen Blick in die Zukunft, optimistische Zukunftsfiktionen seien dagegen eher selten: „Eine positive Welt zu zeigen, das ist ungleich schwerer umzusetzen. Weil der Konflikt der Geschichte nicht durch die negative Entwicklung erzeugt werden kann und sich somit größere Herausforderungen an Plot und Personenzeichnung ergeben.“ Auffällig ist, dass Utopien gerne in die Vergangenheit verlegt werden, was Fachleute dann „Alternate History“ nennen. Prominentestes Beispiel dafür ist wohl Shonda Rhimes’ Netflix-Serie „Bridgerton“, die – mit einer schwarzen britischen Königin – in einer diversen Version des 19. Jahrhunderts spielt.

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