Traue keinem, den du kennst

von Redaktion

Die Netflix-Serie „Schlafende Hunde“ ist ein Thriller, der die Spannung lange halten kann

VON MICHAEL SCHLEICHER

Im Leben sind die Wege manchmal kurz – und führen von der Mythologie des alten Griechenlands direkt in den Berliner Großstadtsumpf der Gegenwart. In der Netflix-Serie „Schlafende Hund“, die es jetzt im Angebot des Streamingdienstes gibt, ist es ein gefallener, psychisch enorm labiler Kommissar, der Orte und Zeiten miteinander verknüpft: Mike Atlas, den alle nur beim Nachnamen rufen, heißt nicht zufällig wie der Titan, der das Himmelsgewölbe auf seinen Schultern trägt.

Auch auf dem Ex-Ermittler lastet so einiges: zerrende Zweifel, dunkle Ahnungen, brutale Schuldgefühle. Die vor allem, sie haben ihn dazu gebracht, seine Familie zu verlassen und auf der Straße zu leben – um die Liebsten zu schützen. Doch wovor? Ein klaffendes Loch in seinen Erinnerungen hilft bei der Suche nach Antworten nicht wirklich weiter.

Es ist also ein tiefschwarzer Hades, in den die Serie ihre Hauptfigur wirft. Mit „Schlafende Hunde“ ist Netflix ein packendes, klug inszeniertes Remake der israelischen Produktion „Ikaron HaHachlafa“ geglückt, die 2016 international als „The Exchange Principle“ an den Start ging. Verantwortlich damals waren Ori Weisbrod und Noah Stollman, der etwa auch an der Serie „Fauda“ mitschrieb. Christoph Darnstädt, vor allem bekannt als Autor diverser „Tatort“-Drehbücher, erzählt die Geschichte nun in Deutschland.

Bei der Wahl des Namens der Hauptfigur wird bereits deutlich, wie geschickt das Skript gebaut ist: Es setzt Hinweise, die jedoch dezent sind und nicht alles verraten. Das nämlich wäre schade, denn die sechs Folgen, jede um die 50 Minuten lang, bieten bis zum Ende Überraschendes. Traue keinem, den du kennst – nach diesem Motto beginnt Atlas, auf eigene Faust in einem Mordfall zu ermitteln, der längst bei den Akten liegt und für dessen Aufklärung er jede Menge Lorbeeren eingefahren hat. Doch als ein Clan-Mitglied, das er für den Mord an einem Richter hinter Gitter gebracht hat, den Freitod wählt, nährt das seine Zweifel an der Polizeiarbeit von einst. Zugleich bekommt eine Assessorin der Staatsanwaltschaft den Auftrag, den Suizid in der Haftanstalt zu untersuchen. Rasch wird dieser Jule Andergast dabei klar, dass das, was ihr als Routine vorgesetzt wird, alles andere als eine solche ist. Auch an dieser Rolle zeigt sich, wie exakt hier inszeniert wurde. Je selbstbewusster Luise von Finckh ihre Figur interpretiert, je mehr sich ihre Juristin von der schier übermächtigen Staatsanwältin emanzipiert, desto offener, wilder wird Andergasts Frisur. Kompliment an die Maske – und ans gesamte Kreativteam, das noch einige anderer solcher Momente gestaltet.

„Schlafende Hunde“ ist nicht nur ein spannender Thriller. Die Produktion schildert die Polizeiarbeit in großer Tiefe, im Spannungsfeld zwischen Korpsgeist, Ermittlungsdruck, Ehrgeiz und großstädtischen Clans, für die Gesetze noch nicht mal Handlungsempfehlungen zu sein scheinen. Natürlich erinnert manches an Dominik Grafs unerreichte ARD-Arbeit „Im Angesicht des Verbrechens“ (2010) – nicht zuletzt, weil Max Riemelt hier wie dort in der Hauptrolle zu sehen ist. Doch muss er die Schauspielarbeit nicht allein schultern. Carlo Ljubek als Ex-Kollege, der mehr als ein Süppchen am Kochen hat; Luise von Finckh als Assessorin, die ihren eigenen Kompass entwickelt; Peri Baumeister als Atlas’ Frau zwischen Hoffnung, Enttäuschung, Wut oder auch Martin Wuttke, der den Clan-Anwalt eben nicht als Schmierlappen zeigt: Das Ensemble trägt diese Serie gemeinsam. Anders als Atlas das im Mythos tun muss.

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