Das Leben seiner Mutter

von Redaktion

Reinhold Beckmanns Buch über Mama Aenne Beckmann, die im Krieg vier Brüder verlor

VON SYBILLE PEINE

„Wann fliegt der Schwindel hier eigentlich auf?“ – dieser Satz zieht sich wie ein roter Faden durch die Korrespondenz des Soldaten Franz Haber. Mit dem Schwindel meint er Hitlers Überfall auf die Sowjetunion im Jahr 1941, der zu Hause als gerechter Kampf gegen den Bolschewismus heroisiert wird, tatsächlich aber ein blutiger Vernichtungskrieg ist. Franz Haber ist einer von Millionen deutschen Soldaten an der Ostfront, er macht den Feldzug von Anfang bis Ende durch. Als der Krieg schon fast vorbei ist und er sich nichts sehnlicher wünscht, als zu seiner Frau zurückzukehren, fällt er im damaligen Ostpreußen. Bis heute hat er kein Grab.

Franz Haber war der Onkel des Sportjournalisten, Moderators und Musikers Reinhold Beckmann („ran“, „Sportschau“, „Beckmann“), genauer gesagt einer von vier Onkeln, die alle eine tragische Gemeinsamkeit haben – sie fielen im Zweiten Weltkrieg, die ältesten drei an der Ostfront, der Jüngste mit gerade einmal 17 Jahren beim „Volkssturm“ in Hessen. Zurück blieben die beiden Schwestern Aenne und Lisbeth, die mit dieser erschütternden Familiengeschichte leben mussten. Reinhold Beckmanns Mutter Aenne starb im Jahr 2019 im Alter von 98 Jahren und hinterließ ihrem Sohn nicht nur die vielen Briefe ihrer Brüder, sondern auch Erinnerungen, die sie mit ihm in langen Gesprächen teilte. Daraus entstand das Buch „Aenne und ihre Brüder“ (Propyläen, 352 Seiten, 26 Euro), das morgen erscheint. Es ist eine bewegende Familiengeschichte, die gleichzeitig ein Stück deutscher Zeitgeschichte ist.

Natürlich treibt den Sohn – wie auch Leserinnen und Leser – die Frage um, wie es möglich ist, mit einem solchen Leid, dem Tod von vier geliebten Brüdern, weiterzuleben? Der Sohn, immer voller Respekt für die Mutter, sieht in ihrem Glauben, einem leidenschaftlichen Katholizismus, den Halt, der sie durchs Leben trug: „Sie zweifelt nicht, weil sie glaubt. Darum habe ich sie immer beneidet.“ Er räumt aber auch ein, mit diesem für ihn manchmal zu unkritischen Gottvertrauen immer wieder gehadert zu haben.

Im ersten Teil des Buchs entwickelt Beckmann ein sehr eindrückliches Panorama einer von der katholischen Kirche geprägten ländlichen Welt, die in Wellingholzhausen bei Osnabrück (Niedersachsen) die vermeintlich so wilden Zwanzigerjahre bestimmt, bis auch hier der Nationalsozialismus langsam an Boden gewinnt. Armut und frühe Todesfälle bestimmen das Leben der Schusterfamilie Haber. Aennes Mutter stirbt bald nach ihrer Geburt und wird durch eine ebenso tüchtige wie strenge Stiefmutter ersetzt. Der Vater stirbt wenige Jahre später infolge eines nie auskurierten Kriegsleidens. Bald gibt es auch einen Stiefvater.

Gerade diese komplizierten, wenig herzlichen Verhältnisse schweißen die Geschwister fest zusammen – bis der Krieg sie trennt. Überzeugter Nationalsozialist ist keiner der Brüder. Der Nachdenklichste und Mutigste ist Franz, für den sein Neffe genau deshalb eine besondere Vorliebe hat. Seine Briefe sind von entwaffnender Offenheit: „Habe die Nase gestrichen voll“ und „Hoffentlich hat es bald ein Ende“, schreibt Franz trotz der Zensur und schildert ungeschminkt das brutale Soldatenleben. Auf seinem letzten Heimaturlaub hat er die Chance unterzutauchen. Er tut es nicht und besiegelt damit sein Schicksal.

Beckmann erzählt all das in einer klaren Sprache, verständnisvoll, aber nicht sentimental. Die historischen Hintergründe bindet er geschickt mit ein. Seine vier Onkel, die er nie kennengelernt habe, seien in seiner Familie immer präsent gewesen, so Beckmann in einem Interview: „Vor allem an Weihnachten und an anderen Feiertagen saßen die vier gefühlt mit bei uns am Tisch.“

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