„Zuhören ist ein erster Schritt“

von Redaktion

INTERVIEW Moderatorin Jessy Wellmer über ihre neue Ost/West-Reportage im Ersten

Millionen Zuschauer kennen Jessy Wellmer als „Sportschau“-Moderatorin, doch die Fernsehjournalistin interessiert sich nicht nur für Sport. Für ihre neue Reportage „Hört uns zu! Wir Ostdeutsche und der Westen“, die das Erste heute um 20.15 Uhr zeigt, hat die 43-Jährige den Osten Deutschlands bereist, um die Gefühlslage in den neuen Bundesländern 33 Jahre nach der Wiedervereinigung zu beleuchten. Jessy Wellmer kam 1979 in Güstrow in Mecklenburg-Vorpommern als Tochter eines Lehrer-Ehepaares zur Welt und tritt demnächst die Nachfolge von Caren Miosga bei den „Tagesthemen“ an. Sie ist verheiratet, hat zwei Kinder und lebt mit ihrer Familie in Berlin.

Ihre neue Reportage heißt „Hört uns zu! Wir Ostdeutsche und der Westen“. Würden Sie sich selbst als Ostdeutsche bezeichnen?

Ich bin in der DDR geboren, ich habe den Umbruch nach 1989 als Kind und Jugendliche miterlebt, aber ich definiere mich nicht primär als Ostdeutsche. In meinem Alltag als Moderatorin, Mutter und Ehefrau ist das keine Kategorie für mich. Ich bin in Mecklenburg zur Schule gegangen, habe ein Austauschjahr in Neuseeland gemacht, ich habe in Westberlin studiert, war im Kibbuz in Israel. Ich pendle nach Köln und Hamburg zur Arbeit und bin für die „Sportschau“ durch die ganze Welt gereist. Ich werde aber zur Ostdeutschen, wenn ich mit Vorurteilen konfrontiert werde über die DDR und den Osten – dann erwacht der Ost-Stolz in mir.

Welche Vorurteile gehen Ihnen am stärksten gegen den Strich?

Das Klischee des Jammer-Ossis ist noch weit verbreitet, die großen Unterschiede innerhalb des Ostens werden oft nicht zur Kenntnis genommen. Am Ende gelten die Ostdeutschen als unzufriedene Wähler rechtsextremer Parteien. Solche Klischees entstehen aus Desinteresse, und die daraus resultierende große Unwissenheit ist etwas, was viele im Osten schmerzt.

Durch unsere Gesellschaft geht ein Riss – vor allem zwischen Ost und West?

Die großen Streitthemen gibt es in Ost und West. Ich glaube aber, dass die aktuellen Konflikte den alten Graben zwischen Ost und West wieder vertieft haben. Wir waren schon mal weiter in den Jahrzehnten seit der Wiedervereinigung. Aber mit den großen gesellschaftlichen Krisen, der Flüchtlingskrise, der Pandemie, dem Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine, ist bei manchen Ostdeutschen das Gefühl wieder stärker geworden, „der Westen“ entscheidet über unsere Köpfe hinweg. In einer Umfrage für unsere Reportage haben wir gefragt, wie sehr Ost und West seit 1989 zusammengewachsen sind, und die große Mehrheit hat gesagt: gar nicht oder wenig. Das erschreckt mich.

Wie wurden Sie bei Ihrer Reise durch den Osten empfangen, als Fernsehfrau aus dem Westen oder als eine von dort?

Die Vorurteile gegenüber Journalisten und Journalistinnen, gerade von öffentlich-rechtlichen Medien, sind im Osten oft groß. Ich begegne aber vielen in meiner Rolle als „Sportschau“-Moderatorin, und das ist eine Eintrittskarte. Ich bin eine Frau, die Sport und Fußball behandelt, und deshalb lassen sich viele auf ein Gespräch ein.

Worüber haben Sie mit den Menschen gesprochen?

Viele wollten einfach ihre Lebensgeschichte erzählen: Wie ging es uns in der DDR, wie ging es uns nach dem Mauerfall, wie geht es uns heute? Weil sie sich vom Westen nie so richtig ernst genommen fühlten und glauben, dass ihr Leben nicht anerkannt wird, weil sie es in der DDR gelebt haben. Und jetzt steht da die Fernsehtante und hört sich das an, das haben viele dankend angenommen. Das passiert offenbar zu selten, und ich denke: Zuhören ist ein erster Schritt.

Das Gespräch führte Cornelia Wystrichowski.

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