Seit über einem Jahr wird Sophie mit dem Auto in die Schule gefahren. Zweimal täglich von Murnau nach Garmisch-Partenkirchen und zurück. An Zugfahren ist seit dem 3. Juni 2022 nicht mehr zu denken. Zu tief haben sich die Bilder des Unglücks in das Gedächtnis der 15-Jährigen gegraben, die in der Bahn saß, die bei Burgrain entgleiste. Der Unfall forderte fünf Tote, darunter ein 13-jähriger Bub, und 68 Verletzte. Sophie hatte Glück, und trotzdem ist seitdem alles anders, wie sie in der ARD-Dokumentation mit dem bewusst mehrdeutigen Titel „Sicher Bahnfahren!“ erzählt. Der dreiviertelstündige Film von Claus Hanischdörfer ist – nach der Ausstrahlung im Ersten vor einigen Tagen – nun in der Mediathek des Ersten abrufbar.
Manchmal bekomme sie noch Panikattacken, sagt Sophie, dann zittern ihre Knie unkontrolliert, dann ist das grauenhafte Gefühl, mit dem Zug aus den Schienen zu kippen, wieder ganz präsent. Filmemacher Hanischdörfer nimmt das Zugunglück von Garmisch als Anlass, das Netz der Deutschen Bahn in seiner investigativen Reportage genauer unter die Lupe zu nehmen.
Die Ergebnisse seiner Recherchen sind alarmierend. Aus internen Akten des Eisenbahnbundesamts gehen allein in den vergangenen drei Jahren rund 400 Beanstandungen hervor, von zum Teil lebensgefährlichen Mängeln ist die Rede. Das Bahnland Bayern kommt dabei nicht gut weg. Durchgerostete Signale, falsche Spurweiten, marode Schienen und Schwellen. Experten geben dem Netz die Note Mangelhaft und fordern umgehend Instandhaltungsmaßnahmen.
Allein auf der rund 120 Kilometer langen Strecke von München über Garmisch nach Mittenwald gibt es 21 Warnungen, an elf Stellen müssen die Züge langsamer fahren. Immer wieder müssen Abschnitte ganz gesperrt werden. „Ein Wunder, dass nicht mehr passiert“, sagt ein langjähriger Lokführer, der anonym bleiben will, in Claus Hanischdörfers Film.
Und was sagt die Deutsche Bahn dazu? Pressesprecher Achim Stauß räumt ein, dass das Netz in Teilen störanfällig und veraltet sei, „aber dennoch sicher“. In Zukunft wolle man marode Strukturen vorsorglich ersetzen. Warum das in den vergangenen Jahrzehnten nicht passiert ist, glaubt ein Anlagenverantwortlicher zu wissen, der ebenfalls anonym bleiben will. „Wir haben etliche Brandbriefe geschrieben, aber nix ist passiert“, sagt er in der ARD-Doku. „Man hat in der Vergangenheit viel vergammeln lassen.“ Grund dafür ist ein Fehler im Finanzierungssystem. „Die Instandhaltung muss die Bahn bezahlen, wenn aber neu gebaut werden muss, zahlt der Bund. Für die hoch verschuldete Bahn ist es also lukrativer, so lange auf Verschleiß zu fahren, bis der Bund den Neubau zahlt.“
Doch wer auf Zeit spielt, geht ein hohes Risiko ein. Deshalb kündigt die Regierung an, dass der Bund die Behebung der Mängel im deutschen Schienennetz künftig übernehmen soll. Bis es so weit ist, bleibt nur zu hoffen, dass Sicher Bahnfahren kein Glücksspiel wird.
Für die Bahn ist es lukrativ, auf Verschleiß zu fahren