Schmerzhafter Seelenstriptease

von Redaktion

Amazon Prime zeigt die vierteilige Dokumentation „Der Gejagte“ über Jan Ullrich

VON GÜNTER KLEIN

Jan Ullrichs Geschichte verkauft sich immer. Egal, welche Lebensphase ausgeleuchtet wird. Die Triumphe. Der Absturz. Die Wiederauferstehung. Oder alles zusammen. Im Sommer vergangenen Jahres überzeugte die ARD mit dem Dokumentarfilm „Being Jan Ullrich“ und einem flankierenden Podcast, für das Projekt gab es verdientermaßen Auszeichnungen. Obwohl Ullrich selbst nicht mitwirkte. Damals schon hieß es zur Begründung, der Radstar habe eine exklusive Vereinbarung mit anderer Seite abgeschlossen, werde sich dort ausführlich äußern. Ab heute ist das Ergebnis als vierteilige Dokumentation zu sehen. Produziert von der Constantin, eingekauft von Amazon für sein Prime-Video-Programm: „Der Gejagte“.

Es war klar, dass da etwas Gewaltiges kommen würde, etwas, das Nachrichtenwert hat. Jan Ullrich gibt nun hochoffiziell zu, was er all die Jahre nicht ausgesprochen hatte. Das Geständnis, gedopt zu haben, ist nun das fein orchestrierte neue Kapitel der Jan-Ullrich-Saga, platziert kurz vor seinem 50. Geburtstag am kommenden Samstag. Ullrich musste das Geld wert sein, das die Filmemacher in ihn investierten. Regisseur Sebastian Dehnhardt sagte kürzlich bei der Vorab-Aufführung von „Der Gejagte“ mit Jan Ullrich und vielen seiner prominenten Wegbegleiter: „Ich habe sofort zugesagt. Mich interessieren Menschen in existenzialistischen Kämpfen. Und Jan hat offen und ehrlich alle Fragen beantwortet.“

Es ist in der Tat ein oft schmerzlicher Seelenstriptease, den Ullrich hinlegt. Beeindruckend auch seine Ex-Frau Sara Steinhauser, die seinen Absturz auf Mallorca unter dem Einfluss von Drogen schildert. Da war ein Mensch, „der sieht aus wie Jan, aber ist ein umgedrehter Handschuh. Er ist durchs Haus, hat randaliert.“ Sie sah sich und die drei gemeinsamen Kinder in Gefahr, „denn ein Süchtiger verändert sich auch“.

Klug und ergiebig sind die Analysen des einstigen großen Widersachers Lance Armstrong, der zu einem der Retter und zum Freund von Ullrich wurde. Ullrich sagte bei der Premiere des Films: „Innerlich ist Lance ein sehr liebevoller Mensch.“ Über Armstrongs Rolle wusste man seit „Being Jan Ullrich“ Bescheid, da hatte sich der Amerikaner ebenfalls geäußert. In ihren wesentlichen Zügen kannte man die Geschichte Jan Ullrichs also schon. Die ARD hatte auch ohne Mitwirkung von Ullrich genügend Archivfilmmaterial, um ihre Dokumentation üppig zu bebildern. Vieles, was vertraut ist, findet sich in „Der Gejagte“ wieder – von ikonischen Rennszenen bis zum missglückten Talkshowauftritt bei Reinhold Beckmann.

Trotzdem lohnt sich die Amazon-Doku, denn Regisseur Dehnhardt gibt der Erzählung einen neuen Rahmen. Der gealterte und nun ja auch geläuterte Jan Ullrich fährt noch einmal markante Stellen seiner Tour-de-France-Teilnahmen ab. „Das Narrativ ist die Re-Tour, die Reise zu sich selbst.“ Ullrich sagt: „Mein Jakobsweg.“ Der Faszination der Serpentinen in Alpen und Pyrenäen kann der Zuschauende sich auch jetzt nicht entziehen, wo Jan Ullrichs Tritt nicht mehr der des zweitbesten Radrennfahrers der Welt ist.

„Der Gejagte“ ist ein ästhetischer Radsportfilm, der neben aller Dramatik auch seine amüsanten Momente hat. Denn Jan Ullrich kann ein gewitzter Erzähler sein, wenn er die DDR-Friedensfahrt mit der kapitalistischen Tour de France vergleicht oder sich daran erinnert, wie ihm einmal ein paar Telekom-Kappen halfen, ein dringliches Verdauungsproblem auf dem Rad kurz vor dem Anstieg nach Alpe d’Huez zu lösen. Danach war er der Erleichterte.

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