Barbie als „Eishexe“

von Redaktion

„I, Tonya“ mit Margot Robbie als Eiskunstläuferin Harding hat heute Fernsehpremiere

Auf Kufen ins Rampenlicht. Margot Robbie glückt in „I, Tonya“ eine berührende und unterhalt- same Charakterstudie der US-Eiskunstläuferin Tonya Harding. © dpa

Bevor die Welt rosarot wurde, war sie weiß, kalt und einsam. Sehr einsam. Es ist die Welt des sogenannten White Trash in den USA, wie die Abgehängten der weißen Unterschicht genannt werden. Hier hinein wird Tonya Harding 1970 geboren – nichts deutet darauf hin, dass sie eine der besten Eiskunstläuferinnen ihres Landes werden sollte und im Zentrum der Attacke auf ihre Konkurrentin Nancy Kerrigan vor den Winterspielen in Lillehammer 1994 stehen wird. Ihr damaliger Mann hatte Schläger angeheuert, die Kerrigan, Liebling der Presse und der Nation, die Beine zertrümmerten. Erst 2018 räumte Harding in einem Interview mit dem Sender ABC ein: „Ich wusste, dass da etwas lief.“

Craig Gillespie hat 2017 das Leben der Athletin verfilmt; „I, Tonya“ kam 2018 in die deutschen Kinos und läuft heute zum ersten Mal im Fernsehen (Arte, 20.15 Uhr). Der Regisseur inszenierte die Geschichte mit pointierten Dialogen als „Mockumentary“, immer wieder blicken die Charaktere also direkt in die Kamera, um den Anschein zu erwecken, es handle sich um einen echten Dokumentarfilm. Dabei geht es gar nicht so sehr um den Eisenstangen-Anschlag, der Harding bei der anschließenden Medienhetze den Titel „Eishexe“ einbrachte. Der Film, bitterböse und komisch zugleich, erzählt vielmehr die Geschichte einer Frau, die früh lernen muss, sich zur Wehr zu setzen, und erwachsen wird mit Verachtung, Missgunst und Gewalt als Begleitung. „Nancy wurde nur ein Mal geschlagen – und die ganze Welt drehte durch“, sagt sie einmal.

Dass dieses Konzept aufgeht, ist vor allem den Darstellerinnen zu verdanken: Allison Janney wurde für ihre Interpretation der eiskalten Eis-Mutter Harding mit dem Nebenrollen-Oscar ausgezeichnet. Doch in erster Linie lebt das Drama von Margot Robbies Spiel. Der Australierin gelingt es, ihrer Figur eine charakterliche Tiefe zu geben, die für eine schwarze Komödie ungewöhnlich ist.

Doch nicht nur aufgrund ihrer Leistung hat der Film eine besondere Stellung im Schaffen der 34-Jährigen, die sich im vergangenen Jahr mit „Barbie“ endgültig in die erste Liga Hollywoods katapultierte: 1,44 Milliarden US-Dollar spielte Greta Gerwigs Verfilmung des Puppenlebens weltweit ein – zum Vergleich: „I, Tonya“ kam auf 53,9 Millionen US-Dollar. Natürlich konnte sich Robbie bereits zuvor nicht über Arbeitsmangel beklagen, an der Seite von Leonardo DiCaprio spielte sie etwa 2013 in Scorseses „The Wolf of Wall Street“, mit Will Smith drehte sie „Focus“, und im vogelwilden Comic-Spektakel „Suicide Squad“ kam ihre Interpretation der durchgeknallten Joker-Freundin Harley Quinn derart gut an, dass die Verantwortlichen ihr eine eigene Produktion auf den Leib schrieben („Birds of Prey: The Emancipation of Harley Quinn“, 2020).

Mit „I, Tonya“ stellte sie sich jedoch erstmals als Schauspielerin vor, die einen Film tragen kann, der ganz auf ihre Figur fokussiert ist und ohne großes Effekt-Tamtam auskommt. Zugleich war sie das erste Mal als Produzentin tätig. Zusammen mit ihrem Mann Tom Ackerley und anderen hatte Robbie 2014 LuckyChap Entertainment gegründet. Apropos Ackerley: Derzeit urlaubt das Paar am Comer See; besonders findige Fotografen wollen ein Baby-Bäuchlein bei der Schauspielerin bemerkt haben.

Zurück zur Kunst und Craig Gillespies Film: In einer Szene zeigt Robbie mithilfe eines schnöden Kaugummis ihr großes Talent. Da kaut also ihre Tonya Harding ausgiebig Kaugummi, bevor sie aufs Eis gleitet. Das Mahlen der Kiefer kündet von Protest, von Verachtung für das Brimborium um sie herum, das sie zugleich verunsichert. Es offenbart vor allem aber die Wut der Sportlerin und ihren Unwillen, auf diesen Zirkus angewiesen zu sein.
MICHAEL SCHLEICHER

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