Pure Energie: Auf der Konzertbühne hat Tina Turner immer alles gegeben – sie starb am 24. Mai 2023. © Warner Music Group
Szene aus „What‘s Love got to do with it“ (Sonntag, 20.15 Uhr, Arte) mit Angela Bassett als Tina und Laurence Fishburne als ihr Ehemann Ike Turner. © Touchstone Pictures
Spätestens seit ihrem selbst gewählten Abtritt von der Konzertbühne 2009 gilt Tina Turner als Inbegriff einer selbstbestimmten Künstlerin, die zu ihren eigenen Bedingungen arbeitet. Arte widmet sich am Sonntag einen Themenabend lang der erstaunlichen Karriere von Turner, die vom Star zur Sozialhilfeempfängerin wird und 1984 als Mittvierzigerin ein sensationelles Comeback hinlegt. Den Erfolg verwaltet sie das folgende Vierteljahrhundert ebenso smart wie diszipliniert, was jüngere Stars wie Beyoncé explizit als Inspiration empfinden. Eine schwarze Frau kann die Kontrolle über ihr Image, ihr Geld, ihre Musik haben und ein Publikum ansprechen, dem die Hautfarbe der Sängerin völlig egal ist. In der neuen Dokumentation „My Songs. My Life“, die Arte um 22.05 Uhr zeigt, wird das erstaunliche Leben der 2023 verstorbenen Ausnahmemusikerin nachgezeichnet.
Das ist konventionell aufgezogen, aber interessant, weil es immer um die Essenz geht: wie Tina Turner ihr Leben zurückgewinnt und Herrin der Lage bleibt. Fotograf Peter Lindbergh erzählt, wie Turner bei Aufnahmen am Eiffelturm in Paris intuitiv die Chance erkennt, unverwechselbare Fotos zu machen und mit Stöckelschuhen auf den Turm klettert. Eine beiläufige Anekdote, aber eine, die zeigt, dass die Künstlerin weiß, dass es in ihrem Geschäft nicht nur um das Singen geht.
Sie ist ein Star, sobald sie aus ihrer Haustür tritt, auch enge Freunde sehen sie nie ohne Perücke. Die erste Hälfte des Films widmet sich ausführlich ihren Anfängen und der toxischen Ehe mit Ike Turner, dem Mann, der sie entdeckt und fast zugrunde richtet. Turner ist ein guter Musiker, aber auch ein Schläger und Despot. Mehrfach landet Tina Turner mit Knochenbrüchen im Krankenhaus. Turner flüchtet schließlich vor dem Ehemann, der Karriereflaute und der Engstirnigkeit der Musikszene aus den USA. „In Amerika bin ich einfach nur eine schwarze Soulsängerin, in Europa ein Star“, sagt sie – und das erklärt, weshalb sie ihre zweite Lebenshälfte in Europa verbringt.
Tinas Erweckungserlebnis ist die Aufnahme des Klassikers „River deep, Mountain high“, den Phil Spector eigens für sie geschrieben hat. Eine Mini-Oper, die Genregrenzen sprengt und für die Turner lernen muss, die Melodie zu singen, ohne Improvisationen. Für sie 1966 eine völlig neue Erfahrung, die ihr Selbstbewusstsein stärkt. Sie hat nicht nur eine Stimme, sie kann auch mit ihr arbeiten. Die Dokumentation zeigt nicht einfach eine talentierte Künstlerin, sondern eine intelligente Frau, die mit eisernem Willen ihren Weg geht. Wie professionell und mitreißend die Entertainerin Tina Turner war, belegt der um 23 Uhr anschließende Konzertfilm „Live in Rio“, in dem man Zeuge wird, wie Turner 180 000 Menschen ins Delirium singt. Ein Bühnenmonster, das in jeder Sekunde pure Energie verströmt. Sie will viel und sie gibt viel.
Zu Beginn des Themenabends wird man eingestimmt mit „What’s Love got to do with it“, dem Spielfilm von 1993, der auf der Autobiografie von Turner beruht. Auch hier liegt der Schwerpunkt auf der Unterdrückung einer Frau durch die Lebensumstände und den Ehemann. Angela Bassetts Leistung in der Hauptrolle ist atemberaubend – und für alle, die nicht mit Turners Werdegang vertraut sind, ist der Film ein guter Einstieg ins Leben einer Kämpferin.
ZORAN GOJIC