Vom Bewunderer zum Verräter: Hagen von Strelow (Ludwig Simon, li.) bedrängt seinen Chef, Nazi-Sonderermittler Rother (Ulrich Tukur). © Bettina Mueller/HR
Das musst du erst mal schaffen: mit einem Sonntagabendkrimi, der sich um Verbrechen der Nationalsozialisten dreht, derart zu berühren. Der durchschnittliche „Tatort“-Gucker sehnt sich zum Ende der Woche ja eher nach Unterhaltung mit dem leichten Thrill, bei der man, wenn’s gar zu grausig wird, wie nach einem Albtraum erleichtert aufatmen kann: Alles nur Fiktion. Das, was dieser „Tatort: Murot und das 1000-jährige Reich“ verhandelt, ist aber unbarmherzig nah an der Realität. Einer, die nicht mit dem Kriegsende vor 80 Jahren endete – das Gedankengut der Faschisten wabert weiter durch die Welt, viel zu viele schwurbeln dreist noch immer von Hitlers „1000-jährigem Reich“. Es gilt damals wie heute: Gib dem Menschen Macht, und du siehst, wozu er fähig ist. Im Guten wie im Schlechten.
Um das vor Augen zu führen, tut Regisseur Matthias X. Oberg, der mit Michael Proehl und Dirk Morgenstern das Drehbuch geschrieben hat, etwas vermeintlich Simples: Er versetzt die Handlung ins Jahr 1944. In Wahrheit kann so eine filmische Zeitreise furchtbar schiefgehen, wenn es an passender Ausstattung fehlt. Dass der Sprung in die Historie hier überzeugend gelingt, liegt an dem Drehort: Der Film wurde fast vollständig im Freilichtmuseum Hessenpark gedreht. Auf 65 Hektar stehen dort mehr als 100 historische Fachwerkhäuser.
Das mutet zunächst an wie ein aufgesetztes Historienspiel. Wie der Wiesbadener LKABeamte Felix Murot (Ulrich Tukur) da auf einmal mit seinem uniformierten Adjutanten Hagen von Strelow (Ludwig Simon) durch die museale Kulisse spaziert. Murot heißt plötzlich Rother, hat als Sonderermittler der Nazis eine Autopanne und muss deshalb vorübergehend in einem Gasthof Quartier nehmen. Als Zuschauer meint man, das sei alles nur ein Traum des LKA-Ermittlers. Kennt man ja bereits von den experimentierfreudigen Wiesbadenern. Bis in einem Wald unweit des Gasthofs vier tote Wehrmachtssoldaten gefunden werden. Und eine klassische „Tatort“-Falllösung beginnt – nur eben komplett in Zeit und Zeitgeist der Vierzigerjahre.
Die Idee ist klar: Oberg und seine Schreibkollegen möchten zeigen, was eine Diktatur mit Menschen macht – und wie viel Mut es bedarf, sich gegen die Gewalt der Mehrheit zu stellen. Es glückt ihnen. Insbesondere an der Figur des geschniegelten Vorzeige-Nazis Hagen von Strelow zeigt dieser sehenswerte und gesellschaftlich relevante „Tatort“, wie verblendend Propaganda wirkt. Ludwig Simon spielt überzeugend den Wandel dieses jungen Mannes: Erst bewundert er die Brillanz seines blitzgescheiten Chefs – bis das, was der tut und sagt, nicht mehr in von Strelows nationalsozialistisches Weltbild passt.
Der Clou folgt am Ende. Die Schlussszene geht durch Mark und Bein: Plötzlich wieder in der Jetztzeit, sehen wir Murot und seine Assistentin Magda Wächter (Barbara Philipp) am Frankfurter Flughafen sitzen. Es landet: ein gesuchter Kriegsverbrecher, dem in Deutschland der späte Prozess gemacht werden soll. Es ist der inzwischen uralte Hagen von Strelow. Während der Landung ziehen im Flugzeuggang an ihm vorbei all die Menschen, die er im Laufe des vorherigen Krimis getötet, drangsaliert, denunziert hatte. „Eines Tages werden Sie für Ihre Taten zur Rechenschaft gezogen“, hatte Rother ihm vorhergesagt. Ein Bild, das hängenbleibt.
KATJA KRAFT