Endlich hat Dolores das Wort: Lea Ruckpauls Debüt-Roman „Bye bye Lolita“

von Redaktion

Sue Lyon (1946-2019) spielte Dolores in Stanley Kubricks Film nach Nabokovs Roman. Als „Lolita“ 1962 in die Kinos kam, war die Schauspielerin 16 Jahre alt. © WDR

Sie verleiht Dolores eine Stimme: Die Schauspielerin Lea Ruckpaul lässt Nabokovs Figur in ihrem Debütroman zu Wort kommen. © Joel Heyd

Jetzt ist sie dran: Endlich kann man hören, was Dolores Haze zu erzählen hat. Unter dem Namen „Lolita“ wurde sie Teil der Weltliteratur. Tatsächlich aber ist die Frau, die in Lea Ruckpauls Debütroman „Bye bye Lolita“ ihre Geschichte erzählt, schwer traumatisiert. Erst zwölf Jahre alt war sie, als der Literaturprofessor Humbert Humbert in ihr Leben trat, Lebensgefährte ihrer Mutter und nach deren Tod ihr Vormund wurde.

Humbert ist die Hauptfigur in Vladimir Nabokovs „Lolita“, dem Text schlechthin über die Mesalliance Alter Mann – blutjunge Nymphe. Im Jahr 1955 hat der russisch-amerikanische Schriftsteller (1899-1977) seinen Roman über unheilvolle emotionale Abhängigkeiten geschrieben. Über die Jahrzehnte ist das Werk nicht allzu gut gealtert, und mit einem aufgeklärten, moderneren Verständnis für Hierarchien und Beziehungen im Kopf kann man „Lolita“ heute eigentlich nicht mehr zur Hand nehmen, ohne in erster Linie an sexuelle Übergriffe und Gewalt gegen minderjährige Mädchen zu denken.

Das ging wohl auch der 1987 in Berlin geborenen Schauspielerin Lea Ruckpaul so. In ihrem ersten Roman verleiht sie dem missbrauchten Mädchen von einst eine Stimme. Die erwachsene Dolores schreibt sich Jahrzehnte nach der Zeit mit Humbert Humbert sämtliche Lasten und schlimmen Erinnerungen von der Seele: „Meine letzte Begegnung mit Humbert Humbert liegt einundzwanzig Jahre zurück. Jahre, in denen ich versucht habe, Dolores zu sein. Aber ich kann Lolita nicht abschütteln. Andere Menschen haben eine chronische Krankheit, mit der sie sich ein Leben lang abmühen. Ich habe Humbert Humbert.“ Sie erzählt ihre Version der Ereignisse. „Ich schreibe so lange, bis er sich endgültig verpisst hat.“

Lea Ruckpaul, die seit der Spielzeit 2023/24 dem Ensemble des Bayerischen Staatsschauspiels angehört, nimmt als Dolores’ Stimme kein Blatt vor den Mund. „Ich bin nicht das missbrauchte Kind. Ich bin nicht das arme Opfer eines sexuellen Missbrauchs, ich bin des Mitleids nicht wert – ich bin die, die euch das Messer zwischen die Rippen rammt und euch dabei in die Augen sieht.“

Eine wütende, schonungslose und in drastische Worte gefasste Selbstermächtigung ist Ruckpauls kraftvoller Text. Was ein wenig Erinnerungen weckt an das knallharte Solo-Stück „Prima Facie“ von Suzie Miller, mit dem sie momentan unter anderem auf der Bühne des Münchner Residenztheaters zu sehen ist. Das beklemmende, von Ruckpaul mitreißend gespielte Drama handelt von einer jungen Londoner Strafverteidigerin, die ständig professionell mit Sexualdelikten zu tun hat und erkennen muss, wie sehr sich der Blickwinkel auf alles ändert, nachdem sie selbst vergewaltigt wird. Nächste Vorstellungen sind am 12. und 15. November.

In „Bye bye Lolita“ geht es noch weitaus expliziter zu. Denn Ruckpauls Figur in „Prima Facie“ verzweifelt in erster Linie am von Männern erschaffenen Rechtssystem, das für Frauen aus verschiedenen Gründen oftmals völlig unzureichend ist. Die in der Weltliteratur missverstandene Dolores ist einerseits viel brennender in ihrer Wut, andererseits viel schneidend kälter in ihrer Erbarmungslosigkeit. „Es wird nicht wieder gut und kommt auch nicht in Ordnung.“ Aber es ist spannend, Ruckpauls Gedanken darüber zu lesen.
ULRIKE FRICK

Lea Ruckpaul:

„Bye bye Lolita“. Voland & Quist, Berlin, 312 Seiten; 24 Euro.

Lesung: Lea Ruckpaul stellt ihr Buch am Freitag, 20 Uhr, im Münchner Residenztheater vor; Karten unter 089/21 85 19 40 oder unter https://tickets.staatstheater.bayern.

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