Die Predigt fürs Wohnzimmer

von Redaktion

„Das Wort zum Sonntag“ feiert seinen 70. Geburtstag – mit einem Festakt in München

Schwester Isa Vermehren richtete ihre Gedanken 1992 an die Zuschauerinnen und Zuschauer – in den vergangenen 70 Jahren hat sich die Reihe stetig gewandelt. © Norbert Neetz

Nach dem Wetter und vor dem Mord im Spätprogramm kommt die Kirche. Eingebettet zwischen Nachrichten und Krimis, verändert die ARD samstagabends plötzlich Geschwindigkeit und Sound – so als habe man versehentlich einen anderen Kanal eingeschaltet. Man fühlt sich an die Predigt in einer Kirche erinnert. Und in der Tat: „Das Wort zum Sonntag“ ist eine Art Predigt fürs Wohnzimmer. Am Donnerstagabend feierte die zweitälteste Sendung des deutschen Fernsehens nach der „Tagesschau“ ihren 70. Geburtstag – mit einem Festakt in der evangelischen Sankt-Markus-Kirche in München.

Steinmeier gratuliert

Auf Einladung der Deutschen Bischofskonferenz, der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und der ARD in München nahm auch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier teil und würdigte „Das Wort zum Sonntag“ als „ökumenische Erfolgsgeschichte“. In den vierminütigen Beiträgen, die jeden Samstagabend nach den „Tagesthemen“ gesendet werden, werfe das „Wort zum Sonntag“ gesellschaftlich und ethisch relevante Fragen auf und bediene sich dabei „einer warmen und sorgsamen Sprache“, so Steinmeier. Das sei wichtig in einer Zeit, in der sprachliche Verrohung, Hetze und Diffamierung die Debatten prägten. Auch der Münchner Kardinal Reinhard Marx, die Ratsvorsitzende der EKD, Bischöfin Kirsten Fehrs, die Intendantin des Bayerischen Rundfunks, Katja Wildermuth, und ARD-Programmdirektorin Christine Strobl gehörten zu den prominenten Gratulanten. Das „Wort zum Sonntag“ wurde 1954 erstmals ausgestrahlt und erfreut sich aktuell noch über durchschnittlich 1,3 Millionen Zuschauerinnen und Zuschauer.

Moralisches Gewissen

Die evangelische und die katholische Kirche haben im öffentlich-rechtlichen Fernsehprogramm feste Sendeplätze, sowohl im Fernsehen als auch im Radio. Dieses Privileg haben die Bundesländer den Kirchen vor langer Zeit in Rundfunk-Staatsverträgen eingeräumt. Damals waren fast alle Westdeutschen entweder katholisch oder evangelisch. Die Kirchen wurden vielfach als das moralische Gewissen der Bundesrepublik betrachtet, sie hatten einen nahezu unangreifbaren Status.

Doch mittlerweile hat sich das Bild gewandelt: Heute ist eine knappe Mehrheit der Deutschen nicht mehr Kirchenmitglied. Und das Ansehen der Kirchen ist durch die Serie von Missbrauchsskandalen schwer erschüttert worden. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage: Warum sollten die Kirchen nach wie vor eigene Sendezeit im Fernsehen bekommen? Eine aktuelle Umfrage unter Landesregierungen ergibt ein klares Bild: Die Kirchen werden das Senderecht auch weiterhin behalten. Eine grundlegende Änderung wird nicht diskutiert. Eines der Hauptargumente der Länder ist der Dienst an älteren Menschen, die nicht mehr in die Kirche gehen können.

Service für ältere Menschen

Vom Staatsministerium in Baden-Württemberg heißt es: „Da ältere Menschen in großem Umfang Mitglieder der beiden großen Kirchen sind, ist eine entsprechende Regelung weiterhin in Hinblick auf die individuellen Bedürfnisse von älteren und mobilitätseingeschränkten Menschen gerechtfertigt und nicht als Privileg einer Religionsgemeinschaft zu betrachten.“ Der Sprecher der Deutschen Bischofskonferenz, Matthias Kopp, weist darauf hin, dass den Gottesdienst-Übertragungen in der Corona-Zeit noch einmal eine zusätzliche Bedeutung zugewachsen sei: Damals waren Präsenz-Gottesdienste lange untersagt, sodass religiöse Menschen nur online oder eben über das Fernsehen daran teilnehmen konnten. Die Sendungen hätten damals auch einen Beitrag zum Zusammenhalt der Gesellschaft geleistet.

Mehr Vielfalt bei Religionen

Der katholische Kirchenrechtler Thomas Schüller plädiert allerdings mit Blick auf das „Wort zum Sonntag“ dafür, auch Vertreter des Judentums und des Islams zu Wort kommen zu lassen. „Es gibt genügend in Deutschland gut ausgebildete Theologinnen und Theologen beider abrahamitischen Religionen, die sprichwörtlich was ,zu sagen‘ haben“, sagt der Theologe.

Von der Senatskanzlei in Berlin heißt es: „Der Grund für die Privilegierung der christlichen Kirchen und der jüdischen Gemeinden liegt in deren hinreichender institutioneller Verfestigung, Geschlossenheit und Repräsentativität gerade unter älteren und mobilitätseingeschränkten Menschen.“ Die Rundfunkveranstalter seien jedoch frei, auch anderen Religionsgemeinschaften von gesellschaftlicher Bedeutung und Weltanschauungsgemeinschaften Sendezeit einzuräumen.

Das Amen ist sicher

Bisher gab es mehr als 3600 Sendungen, von denen – abgesehen von der allerersten, die am 1. Mai 1954 einem Kabelbrand zum Opfer fiel – noch keine ausgefallen ist. Erster Sprecher war der evangelische Pfarrer Walter Dittmann aus Hamburg, mehr als 320 Persönlichkeiten der Kirchen haben seitdem das „Wort zum Sonntag“ gesprochen. Fazit: Das Amen im Fernsehen ist sicher – vorerst jedenfalls. Langfristig dagegen könnte es angesichts der anhaltenden Kirchenaustritte womöglich anders aussehen.


ANNA RINGLE

UND CHRISTOPH DRIESSEN

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